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304. Besehen¹⁾. Betrachten²⁾. Beschauen³⁾.

1) To look at, view.
2) Contemplate, consider.
3) Inspect, examine.
1) Regarder (examiner).
2) Contempler (considerer).
3) Contempler, examiner.
1) Guardare (osservare).
2) Contemplare (considerare).
3) Visitare, esaminare.

Das Besehen geschieht in der Absicht, eine genauere Kenntnis von einem sichtbaren Gegenstande zu erhalten, vermittels welcher wir ihn richtig beurteilen können. Betrachten heißt, etwas zum Gegenstande seiner äußeren und inneren Anschauung wählen. Es beschäftigt sich inniger mit dem Gegenstande und schließt nebst dem Auffassen der Merkmale zugleich eine tiefere Beschäftigung der denkenden und empfindenden Kräfte mit ein. Ein Gemäldehändler besieht ein Gemälde von allen Seiten, um zu untersuchen, ob es auch nicht irgendwo schadhaft sei, ob er nicht in irgendeinem Winkel desselben den Namenszug eines berühmten Meisters oder sonst etwas entdecken könne, wodurch es sich teurer verkaufe. Der Künstler aber betrachtet das Gemälde, um die Kunst an demselben zu bewundern, darüber nachzudenken und sie in seinen eigenen Werken nachzuahmen. Der Liebhaber betrachtet es, um seine Schönheiten voll zu genießen. Besehen ist also äußerlicher und weniger tief als betrachten. Auf das Geistige übertragen ist betrachten oft gleichbedeutend mit nachdenken, und die Gedanken, die jemand über einen Gegenstand im Zusammenhang vorträgt, werden zuweilen geradezu Betrachtungen genannt. So schrieb Schiller „zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände“ und Goethe ein „Buch der Betrachtungen“ im west-östl. Divan. „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“ Goethe, Spr. i. Pr. 162. „So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten, | was durch die schwache Kraft entspringt; | den schlechten Mann muß man verachten, | der nie bedacht, was er vollbringt.“ Schiller, Glocke. — Zwischen besehen und beschauen besteht ein ähnlicher Unterschied wie zwischen sehen und schauen. Während besehen mehr auf die äußerliche Sinnestätigkeit hinweist, schließt beschauen zugleich die innere geistige Tätigkeit ein, es ist zugleich das Sehen des geistigen Auges. Daher ist der Ausdruck beschauen edler als besehen. Auch die Ausdrücke angaffen, begaffen, begucken, beäugeln, in Augenschein nehmen sind mit den genannten sinnverwandt. Gaffen heißt eigentlich: den Mund weit öffnen, den Mund aufsperren; es ist verwandt mit altnordisch gapa, den Mund weit öffnen, aufsperren, engl. to gape, gähnen, altengl. geapian, gähnen, niederl. gapen, gähnen. Das Wort gaffen ist die mitteldeutsche Form für das hochdeutsche kapfen, althochd. chapfên, mittelhochd. kapfen. Noch Voß gebraucht gaffen in der alten Bedeutung des Gähnens und Klaffens, z. B. „aus der gaffenden Todeswunde“ II. 14, 518.1) Gegenwärtig bezeichnet es das Verwunderung und Neugier verratende müßige Anschauen und ist in edler Sprache nicht üblich. Während noch Wieland sagte: „Zwischen Traum und Wachen zweifelhaft schwebt Hüon sprachlos da und gafft“ (Oberon II, 27), hatte Schiller ursprünglich in Don Carlos I, 2 geschrieben: „Acht höllenbange Monde sind es schon, | daß von der hohen Schule mich der König | an seinen Hof zurückberief — daß ich | sie (die Königin) täglich anzuhören — anzugaffen | verurteilt bin,“ änderte aber schon in der ersten Ausgabe von 1787: „daß ich sie täglich anzuhören — anzustarren | verurteilt bin,“ und in der Ausgabe von 1805 schrieb er, wie nun gegenwärtig allgemein auf der Bühne in Geltung ist: „Daß von der hohen Schule mich der König | zurückberief, daß ich sie täglich anzuschaun | verurteilt bin.“ Schon zu Schillers Zeit vollzog sich also die Wandlung, daß gaffen aus der edlen Sprache verbannt wurde. Echt volkstümlich sagt daher Goethe im Paust (I, Szene bei Marte): „Ich hatte, sprach er, nicht zum Zeitvertreib zu gaffen;“ und: „Auf des Nachbarn Schritt und Tritt zu gaffen.“ Ebenda. (Vgl. hierzu Heyne, Deutsches Wörterb. I, 1017.) Demnach bedeutet angaffen: jemand in müßiger Neugier staunend anstarren, während begaffen damit zugleich ein Besehen von allen Seiten verbindet. Beide Ausdrücke sind wie gaffen selbst derbe Ausdrücke. Begucken hebt dagegen lediglich das neugierige Beschauen hervor, ohne den stark tadelnden Nebensinn, der in begaffen liegt; es deutet zugleich an, daß man etwas, gewöhnlich unter Vorwärtsneigen des Kopfes, genauer betrachtet, z. B. sich im Spiegel begucken. „Warum begafft sie mich so?“ sagt Lady Milford zu Luise in Schillers Kabale und Liebe IV, 7. Das neugierige Mustern einer Person oder Sache bezeichnet die Redewendung: Er beguckte mich von vorn und hinten; man beguckte das Geschenk von allen Seiten. Beäugeln hebt hervor, daß jemand etwas heimlich beguckt; er will es verbergen, daß er etwas neugierig betrachtet, und wirft deshalb nur heimliche Seitenblicke nach dem Gegenstande, die er aber, um doch ein genaues Bild zu bekommen, oft wiederholt. Ähnlich bedeutet liebäugeln, sehnsuchtsvolle oder liebende Seitenblicke nach etwas werfen, z. B. mit der Flasche liebäugeln. „Die Mägdlein beäugelten ihn heimlich.“ Gottfried Keller, Das Sinngedicht. Novellen, Berlin 1882, 45. — Etwas in Augenschein nehmen ist eine Umschreibung des Beschauens, die der Sprache der Höflichkeit angehört und verwendet wird, um von hohen Persönlichkeiten oder Behörden u. ähnl. zu sagen, daß sie sich etwas, was in ihrem Lande oder in ihrem Aufsichtsbezirke vorgeht oder zu sehen ist, anschauen, z. B. Die Königliche Familie beehrte die festlichen Veranstaltungen mit ihrem Besuche und nahm alle Einrichtungen in Augenschein. Auch ein Bauherr, der Besitzer eines Hauses, einer Fabrik usw. nimmt nach einer größeren Umwandlung in seinem Besitztum alles in Augenschein. Man sagt dafür auch beaugenscheinigen; doch ist dieses Wort nicht zu empfehlen. In Augenschein nehmen bedeutet also prüfend besichtigen und wurde früher auch allgemeiner verwendet in dem Sinne: sich von etwas persönlich überzeugen, wovon man viel gehört hat. Noch Goethe sagt in Wilh. Meisters Lehrjahren (III,4): „Ein jeder wollte die Gesellschaft in Augenschein nehmen.“ Heute hat sich die Gebrauchssphäre des Wortes bedeutend eingeschränkt, es kann wohl hier und da noch allgemeiner verwendet werden, aber in der Regel steht es nur als förmlicher Ausdruck für Besichtigungen durch höhere Persönlichkeiten.


  1. Ursprüngliche Gestalt der Übersetzung. In späteren Ausgaben umgearbeitet in: „aus der klaffenden Todeswunde“.