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Friedrich Nietzsche

(1844-1900)

Vorurteil der Gelehrten. — Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, dass die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, dass wir es jetzt besser wüssten, als irgend eine Zeit.“

Friedrich Nietzsche, Morgenröte

Friedrich Nietzsche in Eislers Philosophen-Lexikon

Nietzsche, Friedrich Wilhelm, geb. 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen als Sohn eines protestantischen Pfarrers (gest. 1849 an den Folgen einer Gehirnerschütterung durch einen Sturz). 1850 übersiedelte die Familie nach Naumburg a. S., wo Nietzsche von seiner Mutter erzogen wurde. 1858-64 war er in der Schule zu Pforta. Als Primaner verfaßte er schon eine Arbeit über Theognis, der das Gute dem Vornehmen, das Schlechte dem Plebeischen gleichsetzt. Nietzsche studierte dann zwei Semester in Bonn, hierauf in Leipzig Philologie, besonders durch Ritschel gefördert. Als Student zeigte er seine ausgezeichnete Begabung durch zwei Arbeiten: Zur Geschichte der Theognideschen Spruchsammlung (Rhein. Museum, XXII) und: De fontibus Diog. Laërtis (Rh. Mus., XXIII). In Leipzig machte die Lektüre Schopenhauers auf ihn einen außerordentlichen Eindruck, dem nur noch die Bekanntschaft mit der Musik R. Wagners gleichkam. Der 24 jährige Mann wurde, noch bevor er promoviert hatte, zum außerordentlichen Professor in Basel ernannt, wo er seit 1869 wirkte und 1870 schon ordentlicher Professor wurde. Den Krieg von 1870/71 machte er als Krankenpfleger mit und zog sich hierbei die Keime zu seinen Leiden (Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit usw.) zu, die auch durch Überarbeitung verursacht wurden. 1879 gab er seine Professur auf und führte nun (1879-89) ein Wanderleben, die Sommermonate im Engadin (besonders Sils-Maria), den Winter meist an der Riviera verbringend. Die Freundschaft mit R. Wagner, mit dem er (in Triebschen am Vierwaldstätter See) verkehrt und dessen Intentionen er begeistert zugestimmt hatte, hörte (seit 1874) auf, als Nietzsche einsah, daß seine eigene optimistische, das Leben bejahende Weltanschauung von derjenigen Wagners sich weit entferne. Seit 1871 trat Nietzsche mit einer Reihe kulturphilosophischer Schriften auf, die allerdings bei den Philologen Kopfschütteln erregten. Als Nietzsche gar in seinen späteren Arbeiten höchst radikale, ganz ungewohnte Anschauungen gegen die herkömmliche Moral, das Christentum usw. vortrug, fielen auch seine besten Freunde (zu denen E. Rhode, F. Overbeck, Malvida von Meysenbug, Lou Andreas-Salomé, P. Rée, J. Burckhardt u. a. gehörten) ab und Nietzsche fühlte sich höchst einsam und unverstanden, da er nirgends beachtet wurde. Erst seit 1888, nachdem G. Brandes in Kopenhagen mit Erfolg Vorlesungen über Nietzsche gehalten hatte, begann die Würdigung Nietzsches immer mehr zu wachsen, bis sie teilweise zu einer überschwenglichen Verehrung und zu einer Modesache wurde. Im Januar 1889 brach bei Nietzsche eine Geisteskrankheit, aus, er erlitt in Turin einen paralytischen Anfall, verbrachte kurze Zeit im psychiatrischen Institut Jena, dann wurde er (1890-97) von seiner Mutter in Naumburg, schließlich von seiner Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar gepflegt, wo er, nach jahrelanger völliger Geistesumnachtung, am 25. August 1900 starb und wo sich jetzt ein „Nietzsche-Archiv“ befindet.

Die Schriften Nietzsches verraten zwar vielfach die hohe Erregbarkeit des Nervensystems N.s, dessen Leiden auf die Art und das Tempo seines Arbeitens von Einfluß waren, aber man kann doch nicht sagen, daß sie nur Produkte eines Geisteskranken sind, mögen auch Vorzeichen der Geisteskrankheit schon früher oder später aufgetreten sein. Seinem Charakter nach war Nietzsche eine vornehme, feinsinnige, in keiner Weise harte Natur; nur gegen sich selbst war er hart, seine Leiden stachelten ihn nur desto mehr zum Schaffen an, zum kraftvollen Aushalten und Wirken. Die Schwächen, die er an sich wahrnahm, sollten ihn nicht herunterziehen, und sein Ideal ist denn auch der starke Mensch, der rücksichtslos seinen Weg geht, die Schmerzen des Lebens kennt und empfindet, das Leben selbst aber nur um so stärker und freudiger bejaht, wie es auch kommen mag („amor fati“). In seinem Denken ist Nietzsche in hohem Maße persönlich; dieses Denken ist impulsiv, affektvoll, zielstrebig, vom Willen bewegt. Es ist vielfach einseitig und teilweise auch widerspruchsvoll, nicht sehr systematisch, aber doch durch die Einheit der Persönlichkeit einheitlich, auch wo sich die Persönlichkeit N.s selbst wandelt. Die Kraft schärfster und feinster psychologischer Analyse macht sich in allen Schriften N.s geltend. Dazu kommt die kraftvolle, plastische, bilderreiche, allen Nüancen des Denkens und Wertens folgende, oft künstlerisch vollendete Sprache. Nietzsche ist eben nicht bloß Denker, sondern auch Künstler, Dichter, und dazu noch ein eifervoller Prophet und Reformator, der den Menschen neue Ziele setzt, neue Werte weist. Die Philosophie faßt er aktivistisch auf. Der Philosoph strebt nach einheitlichem Beherrschen der Welt. Die Philosophen sind „Befehlende und Gesetzgeber“, sie haben die „Rangordnung der Werte“ zu bestimmen.

Wenn Nietzsche auch nicht zu den streng systematischen Philosophen gehört, so darf doch der meist aphoristische Charakter seiner Schriften nicht zu dem Glauben verführen, als ob hier eine einheitliche Lebens- und Weltanschauung ganz fehlte. Drei Perioden lassen sich in N.s Denken unterscheiden: eine noch unkritische voluntaristische, dann – als Reaktion gegen den Einfluß Schopenhauers und Wagners – eine intellektualistisch-positivistische, endlich, mit Erhebung des ersten Standpunktes auf eine höhere Stufe, ein durch Skepsis und Kritik hindurchgegangener optimistischer, evolutionistischer, individualistischer Voluntarismus auf biologisch-idealistischer Grundlage (im weiteren Sinne). Stets aber ist sein Denken auf die Frage nach der Steigerung, Hebung des menschlich- kulturellen Lebens, der Lebenskultur gerichtet, stets bleibt Nietzsche ein Lebens- und Kulturphilosoph, dem es um die Gewinnung einer freien, starken Menschlichkeit zu tun ist, wobei er immer mehr den Wert der Persönlichkeit betont. Kritik und Skepsis, Abwendung von bestehenden Idealen und Werten, der „Nihilismus“ und „Immoralismus“ N.s, sind nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zur Freimachung der Bahn zu höheren Zielen und Werten, wie er sie auffaßt. Selbst die scharfe Bekämpfung der transzendenten Metaphysik im Sinne der Annahme und Wertung eines Jenseits der Erscheinungen, einer „Hinterwelt“, verhindert nicht, daß Nietzsche schließlich selbst zum Metaphysiker wird, nur daß seine Metaphysik auf positivistisch-psychologischer Grundlage ruht. Beeinflußt ist Nietzsche von verschiedenen Denkern, so von Heraklit, Empedokles, den Sophisten, den Stoikern, von Spinoza und Hobbes, von Schopenhauer, Renan, Spencer, Darwin, F. A. Lange u. a. Stirner, mit dem Nietzsche manches (aber nicht viel) gemein hat, kannte er, ebenso Guyau (vgl. die Randbemerkungen N.s in der deutschen Ausgabe von „Esquisse d'une morale“, „Sittlichkeit ohne Pflicht“, 1909). In erkenntnistheoretischer Beziehung zeigt Nietzsche manche Verwandtschaft mit Mach und den „Pragmatisten“, die er aber nicht kannte, auch mit Bergson, Vaihinger u. a.

Im Folgenden heben wir aus der Fülle der Nietzscheschen Gedanken nur die philosophisch bedeutsamen heraus. Die erste Periode N.s zeigt ihn unter dem Einflusse Schopenhauers und Wagners, sowie der griechischen Kultur. Um das Kulturproblem dreht sich hier alles. Die Kultur selbst definiert er als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“, er faßt sie also wesentlich, von ihrer ästhetischen Seite auf („Ästhetizismus“). Als Grundtriebe der griechischen Kultur, die ihm als Ideal vorschwebt, findet er das „Dionysische“ und „Apollinische“ (als „Kunsttriebe der Natur“). Das Dionysische ist orgiastischer Art, eine Art Rauschzustand, ein Hinausgehen über alle Grenzen und sich eins Fühlen mit dem All, mit dem einen Willen zum Leben; das Apollinische liegt in der maßvollen Begrenzung, in der Form, in der Welt der Bilder, der Vorstellungen. Nietzsche zeigt nun, wie in der griechischen Tragödie, die aus der Musik hervorgeht, beide Elemente sich vereinigen. Die griechische Tragödie ist der dionysische Chor, der sich in einer apollinischen Bilderwelt entladet; sie stellt „das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein“ dar. Im „tragischen“ Zeitalter der Griechen stand auch die Philosophie (Heraklit u. a.) am höchsten. Dann aber bricht die Zeit der Reflexion und Nüchternheit herein, das Dionysische tritt ganz zurück. Diese kraftlose Reflexionsphilosophie vertritt besonders Sokrates. Den Begriff des „ Dionysischen“ nimmt Nietzsche in seiner dritten Periode wieder auf und erweitert ihn; es ist ihm der das Leben in allen seinen Leiden und Furchtbarkeiten leidenschaftlich-freudig bejahende Wille. Nietzsche bekämpft dann den Mangel an Kultur, den ihm der Zeitgeist offenbart, er zieht gegen das „Bildungsphilisterium“ los, wie es sich nach ihm etwa in der Schrift „Der alte und der neue Glaube“ von D. Fr. Strauß zeigt, er warnt vor den Gefahren eines alle Initiative und Tatkraft schwächenden Historismus und weist endlich auf Schopenhauer und R. Wagner als Erzieher zu wahrer Kultur hin, für welche die Erzeugung des Genies die Hauptsache ist. Der aristokratische Individualismus N.s, der sich immer mehr zu einem „aristokratischen Radikalismus“ ausbildete, macht sich schon hier geltend.

Dieser Individualismus nimmt nun – nachdem Nietzsche in seiner „zweiten Periode“ das Apollinische, Intellektuelle, Aufklärerische, kurz die Leistung des besonnenen, wissenschaftlichen Denkens, welches sich von den Illusionen und Irrtümern der Religion, Metaphysik: usw. entfernt, auf den Thron erhoben, den „freien Geist“, der rücksichtslos nur um die Wahrheit bekümmert ist, als Ideal aufgestellt und (von Rée beeinflußt) das Sittliche utilitaristisch (als aus der Wertung sozial nützlicher Folgen entspringend) erklärt hatte – eine ethische Form an, wobei das „Dionysische“ wieder hervortritt, der Intellektualismus einem zielbewußten Voluntarismus Platz macht. Dieser Voluntarismus, der uns unten weiterbeschäftigen wird, ist optimistisch; höchstes Ziel alles Handelns und Wollens ist das Leben, bzw., wie Nietzsche gegen Schopenhauer erklärt, nicht das Dasein als solches, welches man ja nicht erst zu erstreben braucht, sondern das starke Leben, die Lebenssteigerung, die Macht, so daß der Lebenswille „Wille zur Macht“ ist (vgl. Hobbes, Spinoza). Die Macht (der Kraftüberschuß) ist nun nach Nietzsche der höchste Wert und der oberste Wertmaßstab, an dem alle anderen Werte gemessen werden (vgl. Richter, Fr. N., 2. A., S. 199 ff.).

Wenn nun Nietzsche sich einen „Immoralisten“ nennt, die bestehende Moral „umwerten“ will, so hat dies seinen Grund darin, daß er die Frage: was ist gut oder schlecht, sittlich oder nicht? auf Basis eines anderen Wertsystems beantwortet. Er hat eine andere Auffassung über den Sinn des Lebens und des „Guten“ und glaubt diese Auffassung auch historisch begründen zu können. So stellt er „Herrenmoral“ und „ Sklavenmoral“ einander gegenüber, die verschiedenen Wurzeln entspringen. „Gut“ bedeutet ursprünglich die Wertsetzung der Herrschenden, Mächtigen, Vornehmen, welche sich und ihr Handeln hoch einschätzten. Während hier „schlecht“ das Verhalten der Niedrigen, „Schlichten“ Schwachen usw. ist, bedeutet hier gut soviel wie vornehm, edel, mächtig, stark, schön u. dgl. Wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff „gut“ bestimmen, sind es die „erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden“. Aber es hat einen „Sklavenaufstand in der Moral“ gegeben. Die an Zahl überlegenen und durch ihre Schlauheit siegenden Niedrigen, Schwachen, Degenerierten nehmen dadurch Rache an den Starken, daß sie, voll „ressentiment“, gerade das im aristokratischen Sinne Gute als „bös“ werten und dem ihr „Gutes“ gegenüberstellen, nämlich den Wert ihrer „Tugenden“: Demut, Mitleid, Gehorsam, Entsagung usw. Diese Umwertung ist besonders seitens der Juden (im Christentum) erfolgt. Und nun versteht man, warum Nietzsche mit so grimmigem Hasse gegen das Christentum loszieht, von dem er meint, es habe mit seiner Moral allem Starken, Lebensvollen entgegengewirkt. Nun gilt es, die christliche Umwertung der ursprünglichen Werte selbst umzuwerten und das Ideal ist jetzt für Nietzsche der starke, kraftvolle, an Leib und Seele gesunde und tüchtige Mensch, der ein robustes Gewissen und eine ausgeprägte Persönlichkeit hat, der im Dienste des Willens zur Macht – als Wille zu kraftvollem, immer mehr sich steigerndem, immer höher steigendem Leben aufgefaßt – keine kleinlichen Rücksichten (ev. auch nicht auf Mitmenschen) kennt, der aber keinesweg der Lust und dem Genuß huldigt (N. ist weder Hedonist noch Egoist im gewöhnlichen Sinne, sondern seine Ethik hat bei aller Betonung der Persönlichkeit ein objektives und universales Ziel), sondern hart auch gegen sich selbst sein kann, der unentwegt sein Ziel verfolgende, sich disziplinierende, in der Zucht habende Mensch. Nicht schwächliche Moral soll herrschen, sondern Tugend im alten Sinne (aretê, virtus, Mannhaftigkeit), „moralinfreie“ Tugend, d.h. ein Verhalten im Sinn möglichster Lebenssteigerung, nicht Handeln aus Schwäche, aus Wertungen, wie sie der entartete Mensch (der „Dekadente“) vollzieht. „Alles ist erlaubt“ – soweit es dem Leben dient, lebenerhaltend, lebenfördernd ist; was so ist und wirkt, steht „jenseits von Gut und Böse“. „Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus Schwäche stammt.“ Der Idealismus N.s hat „robustere Ideale“ als die altruistische Mitleidsmoral, die nach ihm nur die Entarteten, Schwächlichen erhält und der Menschheit schadet, die Rasse verdirbt. „Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen; erster Satz unserer Menschenliebe, und man soll ihnen noch dazu helfen.“

Aber nicht jeder kann sich auf eine solche Höhe stellen, nicht jeder verträgt die starke Luft, die hier weht. Die Massen sollen nur ihre Herdentugenden behalten, sie sind zum Gehorchen da, haben keine Selbständigkeit und würden nur, wenn sie ihre altruistisch- sozialen Tugenden aufgäben, das Letzte verlieren, was an ihnen Gutes ist. Eine Rangordnung zwischen Mensch und Mensch muß es geben, ein „Pathos der Distanz“ zwischen Herren- und Sklavennaturen, zwischen den Starken, Vornehmen und den gewöhnlichen Herdenmenschen. Nietzsche ist schroffster Gegner aller „Gleichmacherei“, alles Sozialismus. Das Ziel der Menschheit liegt ihm in ihren „höchsten Exemplaren“, die Masse und deren Kultur ist nur da, um dem Wirken der großen Persönlichkeiten den Boden zu bereiten (Vgl. Carlyle, Renan u. a.).

Das Ideal des kraftvollen, freien, sich selbst zur Quelle aller Zielsetzungen, Wertungen und Gesetze machenden, über alles Niedrige, Gemeine, Schwache erhabenen, das Ziel der Lebens- und Machtsteigerung, um alle Leiden und Schmerzen unbekümmert, in freudigem Kampfe verfolgenden Menschen bezeichnet Nietzsche als Übermensch. Er versteht darunter zuerst eine neue Art („Überart“) als Ganzes, die sich durch Züchtung wird entwickeln lassen, dann aber immer mehr einzelne Persönlichkeiten, wie sie dereinst kommen werden und zu denen es schon wiederholt Ansätze gegeben hat (z.B. Napoleon, diese „Synthesis von Unmensch und Übermensch“), endlich ein Ideal. Jedenfalls ist es das Lebenswerk der Menschheit, an der Züchtung des Übermenschen zu arbeiten, dieser soll auch die Ehe dienen als ein sich „Hinaufpflanzen“. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ „Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus.“ „Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“ „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft, zwischen Tier und Übermensch.“ Der Mensch ist „ein Übergang und ein Untergang“. „Tot sind alle Götter, nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.“ Von der Ansicht, daß eine natürliche Höherentwicklung des Menschen besteht, ja daß überhaupt die Entwicklung der Arten eine Höherentwicklung ist, hat sich Nietzsche immer mehr entfernt.

Die Begriffe „Leben“ und „Macht“, die obersten Werte Nietzsches, beherrschen auch seine Erkenntnislehre, welche einen skeptisch-positivistischen, biologisch- idealistischen, perspektivistischen Charakter hat. Nietzsche betont, die Erkenntnis stehe ganz im Dienste des Lebens, des Machtwillens; absolute Wahrheiten zu geben, die Wirklichkeit treu zu erfassen, dazu ist sie nicht geeignet. Alle möglichen Irrtümer sind in der Sprache verdichtet, welche durchaus metaphorisch ist, so daß unsere Vernunft nichts als „Sprach-Metaphysik“ ist. Wir denken über die Dinge in lauter Metaphern, „fetischistisch“, legen in die Dinge menschliche Eigenheiten und Werte hinein, „verfälschen“ die Wirklichkeit. Vom grob Anthropomorphischen können wir uns nur durch Aufzeigung der subjektiven Zutaten, durch „Entmenschung“, der Natur befreien. Die Erkenntnis arbeitet im Dienste des „Willens zur Macht“, ist Verarbeitung von Erlebnissen zum Zweck der Beherrschung der Tatsachen, der Lebenserhaltung, der Orientierung, und zu diesem Zwecke denken wir die Dinge so, wie dies unseren biologischen Bedürfnissen angemessen ist. Die Formen unseres Denkens, die Kategorien (Substanz, Kausalität, Zweck usw.) sind rein subjektiv, rein biologisch- psychologischen Ursprungs. Sie haben sich durch ihre Nützlichkeit bewährt, sind biologisch zweckmäßig, sind einverleibte Irrtümer, welche gelten, weil sie nützlich sind. Erst fingieren wir ein „Ich“ als Träger unserer psychischen Zustände, dann projizieren wir es auf die Außenwelt, die uns nun als eine Summe von Substanzen, „Tätern“ usw. erscheint. Wir machen, weil dies für uns zweckmäßig ist, aus dem Flusse des Geschehens, dem ewigen Werden eine Welt des Seins, des Beharrens, welches nur Schein ist (vgl. Heraklit). Eine solche Welt entspricht unserem Verlangen nach einer Welt des Bleibenden, der unser Wille zur Macht mehr gewachsen ist, einer bestimmten Perspektive („Perspektivismus“). Hinter allem Denken stecken eben Triebe, Instinkte, Wertungen, das Denken ist Willensprodukt, die Denkgesetze, die logischen Gebilde gelten nur für eine fingierte, für eine von uns „logisierte“ Welt. Unsere „Wahrheiten“ sind eingewurzelte, als nützlich bewährte Irrtümer der Gattung. „Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also, ‚prinzipiell‘ zu einer nützlichen Fälschung), in ihnen das Kriterium der Wahrheit, resp. der Realität zu haben glaubt. Das ‚Kriterium der Wahrheit‘ war in der Tat bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung.“ Es gibt an sich keine Wahrheit.

Ist die Wahrheit als solche schon wertvoll? fragt Nietzsche. Nein, lautet die Antwort, nur soweit sie lebenerhaltend ist. Auch „falsche“ Urteile sind wertvoll, wenn sie nützlich sind. „Die Falschheit, eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil.“ Gerade die „falschesten Urteile“, wie die synthetischen Urteile a priori (die gar nicht für das Wirkliche selbst gelten), sind uns die unentbehrlichsten. Wahrheit existiert nur in bezug auf wertende Subjekte. „Woran ich zugrunde gehe, das ist für mich nicht wahr, das heißt, es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen.“ Gattungsmäßige Wahrheiten entstehen durch Konvention, indem fixiert wird, was als Wahrheit gelten soll; „wahr“ ist nun ein Satz, der für die Dinge die allgemein eingeführten Namen gebraucht, der aber im Verhältnis zur Wirklichkeit selbst „falsch“ sein kann, da er nur relativ, für unsere Auffassung und Zurechtlegung der Dinge gilt. So hat z.B. der Begriff der „ Ursache“ etwas „Fetischistisches“ (vgl. Mill, Mach), wir übertragen das Verhältnis zwischen Wollen und Tun auf die Dinge, ohne Kausalität wirklich zu erleben, denn nicht wir sind tätig, sondern es wirkt in uns. Es gibt an sich keine Ursachen, keine Gesetze, keinen Zwang; nur ein kontinuierlicher Fluß des Geschehens besteht (vgl. Bergson). Die mechanistische Weltanschauung zeigt uns nur „Folgen“, und diese nur in der Sprache unserer Empfindungen. Stoff, Stoß, Druck, Atom usw. Bind nicht Tatsachen, sondern Interpretationen. „Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.“ „Die mechanische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen.“ Der Mechanismus ist nur eine „Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willensquanta“.

So kommt Nietzsche schließlich über den Phänomenalismus hinaus zu einer dynamisch-voluntaristischen Metaphysik. Das Wesen aller Kraft ist Wille zur Macht. Die Dinge sind „dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten“, sie bestehen aus „Herrschaftsgebilden“, aus „Willenspunktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren“. Die universale Tendenz der Dinge ist Streben nach „Akkumulation der Kraft“, nach Aneignung von Macht, Mehrwerden, Stärkerwerden. „Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum handelt es sich bei allem Geschehen.“ Die Wirklichkeitselemente verbinden sich, indem sie miteinander um die Macht „ konspirieren“, wo keines das andere unterwerfen kann. In allen ist der Machtwille das Treibende; im Anorganischen und im Organischen wie im Geistigen, wo das Bewußtsein nur die Oberfläche, etwas „Hinzugefügtes“ (vgl. Ribot) ist. Die Welt besteht aus einer Vielheit von Willenseinheiten, die aber nicht selbständige Substanzen sind, sondern Knotenpunkte im Weiden. Die Welt ist eine „dionysische Welt des Ewig-sich-selber-schaffens, des Ewig-sich-selber-zerstörens“, ein ewiges Werden, ein Kämpfen und Streben ohne Rast und Ruh, ohne Ende, ohne Ziel. „Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein.“ Nietzsche lehrt (wie schon Heraklit, die Pythagoreer, die Stoiker u. a.) eine „ewige Wiederkunft“, die ihm ein Ersatz für alles Jenseits, alle Unsterblichkeit ist und deren Idee zugleich züchtend wirkt, indem sie nur von jenen leicht ertragen wird, die da stark sein wollen. So sehr bejaht Nietzsche das Leben, daß er es, das Schwindende, für alle Ewigkeit haben will, und dazu muß es ewig wiederkehren mit allen Dingen, Zuständen, Ereignissen, allen Freuden und Leiden. Die Welt ist ein Kreislauf, der sich unendlich oft wiederholt hat und der immer wieder sein Spiel spielt. Die Zeit zwar ist unendlich, aber nicht die Kraft in ihr, so daß nur eine endliche Zahl möglicher Kombinationen besteht. „In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein.“ Genau dasselbe kehrt immer wieder; im Werden erhält sich das Sein.

Was die Welt ist, sagt Nietzsche zusammenfassend: „Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht großer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt..., nichts Unendlich- Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raum, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheueren Jahren der Wiederkehr..., sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend, als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Würden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-schaffens, des Ewig-sich-selber-zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein ‚Jenseits von Gut und Böse‘, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt,...: diese meine Welt, – wer ist hell genug dazu, sie zu schauen, ohne sich Blindheit zu wünschen?... Und wer das vermöchte, müßte er dann nicht noch mehr tun? Dem ‚Ring der Ringe‘ sich selber anverloben? Mit dein Gelöbnis der eignen Wiederkunft? Mit dem Ring der ewigen Selbst-Segnung, Selbstbejahung? Mit dem Willen zum Wieder- und-noch-ein-Mal-Wollen? Zum Zurückwollen aller Dinge, die je gewesen sind? Zum Hinaus -Wollen, zu allem, was je sein muß?“ Diese heroische Weltanschauung, die nicht einer mystischen Frömmigkeit entbehrt, ist atheistisch, kennt keinen Gott. „Gäbe es Götter, wie könnte ich es ertragen, kein Gott zu sein?“ Von Nietzsche beeinflußt sind R. Steiner, E. Horneffer, Mauthner, G. Landauer, G. Naumann, Zerbst, Gallwitz, P. Mongré, Seillière, Gaultier u. a.; überaus groß war der Einfluß N.s auf die schöne Literatur, auf den Zeitgeist überhaupt.

Schriften: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872. – Unzeitgemäße Betrachtungen, 1873-76 (1873: D. Fr. Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller; 1874: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; 1875: Schopenhauer als Erzieher; 1876: R. Wagner in Bayreuth). – Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1878-80. – Morgenröte, Gedanken über moralische Vorurteile, 1881. – Die fröhliche Wissenschaft, 1882. – Also sprach Zarathustra, 1883-91. – Jenseits von Gut und Böse, 1886. – Zur Genealogie der Moral, 1887. – Der Fall Wagner, 1888. – Die Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, 1888. – Nietzsche contra Wagner. – Der Antichrist. – Gedichte (in der Gesamtausgabe von F. Koegel, 1. Abt. 1895). – 2. Abteil., hrsg. von E. u. A. Horneffer u. a., enthält auch die Schrift „Der Wille zur Macht“ ( dessen erstes Buch „Der Antichrist“ ist). – Ecce homo, 1908. – Gesammelte Briefe, 1900-1904. – Vgl. E. FÖRSTER-NIETZSCHE, Das Leben F. N.s, 1895-1904. – KAATZ, Die Weltanschauung F. N.s, 1892 f. – A. RIEHL, F. N., 5. A. 1909 (Frommans Klassiker der Philosophie). – H. LICHTENBERGER, La philosophie de N., 1898; deutsch 2. A. 1900. – E. HORNEFFER, Vorträge über N., 1903. – RUD. EISLER, Nietzsches Erkenntnistheorie und Metaphysik, 1902. – EWALD, N.s Lehre, 1903. – TH. ZIEGLER, F. N., 1903. – KALTHOFF, F. N., 1900. – H. VAIHINGER, Nietzsche als Philosoph, 1902; 4. A. 1908. – F. ORESTANO, Le idee fondamentali di F. N., 1903. – R. RICHTER, F. N., 1903; 2. A. 1909. – A. DREWS, N.s Philosophie, 1904. – MÖBIUS, N., 1904. – R. OEHLER, Nietzsche und die Vorsokratiker, 1904. – K. JOËL, Nietzsche und die Romantik, 1905. – E. SEILLIÈRE, Apollon ou Dionysos, 1905; deutsch 1906. – GRÜTZMACHER, N., 1910. – BERNOUILLI, F. Overbeck u. F. N., 1908.

(Aus: Rudolf Eisler (1876-1927): Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, 1912)