Zum Hauptinhalt springen

Karl Kraus

(1874-1936)

„Noch immer gibt es Leser, die der Meinung sind, die bildlichen Darstellungen der Fackel seien Karikaturen. So wird zumal die photographische Echtheit des »Siegers« nicht vermutet, sondern bezweifelt oder gar bestritten. Der »Sieger« ist aber beileibe kein Kunstwerk, sondern ein schlichter Alpdruck nach einer Photographie. Es wäre ebenso wertlos wie überflüssig, das Gesicht des Herausgebers der Neuen Freien Presse in einer Karikatur darzustellen. Die Leser verstehen noch immer nicht, daß es sich hier wie in anderen Fällen um photographische Zitate der Wirklichkeit handelt und daß diese Reproduktionen eben dadurch Wert haben, daß das, was eine Karikatur sein könnte, keine ist.“

Karl Kraus, Die Fackel, Nr. 400–403, Wien, 10. Juli 1914.

„Noch nie habe ich einen Schuft deshalb für ehrlich gehalten, weil er so unehrlich war, zu sagen, ich sei kein Schuft. Wenn sie mir einen Beweis geben wollen, genügt es nicht, mich leben zu lassen. Aufhören, selbst zu leben: das ist die Friedensbedingung, von der ich auch kein Jota abhandeln lasse. Primum non vivere, deinde wird sich finden. Eines Tages mögen sie — bei mir verändert sich nichts! Sie könnten einen letzten Bestechungsversuch machen, indem sie mir in Aussicht stellen, daß sich auch bei ihnen nichts verändert und daß ich keines Tages anerkannt würde. Aber selbst wenn sie meine Bitte um Totschweigen erfüllten, könnte ich mich ihnen nicht erkenntlich zeigen. Ob sie mich loben oder nicht: da ich meiner privaten Behaglichkeit kein Opfer bringe und die Pflicht mich zwingt, sie für den Auswurf der Menschheit zu halten, so läßt sich leider nichts machen und alles bleibt zwischen uns beim Alten. Der Friseur schweige. Ich spreche weiter.“

Die Fackel, Nr. 345/346, Wien, 31. März 1912.

Inhalt

Über Karl Kraus

„ … Diese Dinge sind zum allergrößten Teil in den Kriegsjahren geschrieben worden. Dieser infernalische Haß gegen eine große Zeit, diese unbedingte Ablehnung, durch nichts zu erschütternde Ablehnung des Blutvergießens ist damals eine Tat gewesen. Heute schreibt dergleichen die halbe Schweiz und ein Zehntel Deutschlands, und das will nicht viel besagen. Aber damals, als die Wellen der vaterländischen Begeisterung allzuhoch gingen – damals dergleichen gewagt und gesagt zu haben: das will etwas bedeuten. Und er hats gewagt.

Das Wort »Du sollst nicht töten« prallt mit dem andern vom »Gehorsam gegen die Obrigkeit« zusammen – und das große Wort gewinnt Macht über das kleine utilitaristische. Du sollst nicht töten … ! Und ein so konstruiertes Auge sah sich nun die große Zeit an und zeichnete ihre schrecklichsten Bilder.

Was hier gestaltet ist, mag sich oft erst nach der Gestaltung ereignet haben. Und was sich nicht ereignet hat, das hat nur vergessen, sich zu ereignen – so grauenhaft echt ist das alles. Die großen Worte fallen ab, und es bleibt eine ungeheure Kulturschande, die durch nichts zu entschuldigen ist.

Der Vorleser Kraus ist einer der stärksten Eindrücke. Er sieht fast niemals auf, er liest richtig vor – nur manchmal beschreiben diese seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis oder sie zeichnen eine Geste übertrieben auf … nur die Stimme herrscht. Nein: der Wille herrscht. Seine Stirnader schwillt. Mit ungeheurer Intensität bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus – eine Eruption seltenen Grades. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen, fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren – weil es wahr ist, in jedem Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage. Und Anklage auf Anklage …

Du sollst nicht töten … ! Das ist eine harte Forderung, eine unbequeme Forderung, eine unrationalistische Forderung. Er vertritt sie, er schreit sie hinaus, er pocht mit ehernem gekrümmten Knöchel an die Tür des Todes, die mit den Landesfarben angemalt ist. Und es klingt hohl …

Dies ist keine Parteiangelegenheit und keine Landesfrage. Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.“

„Alte Stiche haben den Boten, der schreiend, mit gesträubten Haaren, ein Blatt in seinen Händen schwingend, herbeieilt, ein Blatt, das voll von Krieg und Pestilenz, von Mordgeschrei und Weh, von Feuer- und Wassersnot, allerorten die »Neueste Zeitung« verbreitet. Eine Zeitung in solchem Sinn, in der Bedeutung, die das Wort bei Shakespeare hat, ist die »Fackel«. Voll von Verrat, Erdbeben, Gift und Brand aus dem mundus intelligibilis. Der Haß, mit dem sie das unabsehbar wimmelnde Preßgeschlecht verfolgt, ist mehr als ein sittlicher ein vitaler, wie ihn der Urahn auf ein Geschlecht entarteter Zwergenschlingel geworfen hat, die aus seinem Samen gekommen sind. Der Name »Öffentliche Meinung« schon ist ihm ein Greuel. Meinungen sind Privatsache. Die Öffentlichkeit hat ein Interesse nur an Urteilen. Sie ist richtende oder überhaupt keine. Aber das ist ja gerade der Sinn der öffentlichen Meinung, die die Presse herstellt, die Öffentlichkeit unfähig zum Richten zu machen, die Haltung des Unverantwortlichen, Uninformierten ihr zu suggerieren. In der Tat, was sind selbst die präziseren Informationen der Tageszeitungen im Vergleich zu der haarsträubenden Akribie, die die »Fackel« an die Darstellung rechtlicher, sprachlicher und politischer Fakten wendet. Die öffentliche Meinung braucht sie nicht zu kümmern. Denn die bluttriefenden Neuigkeiten dieser »Zeitung« fordern ihren Richtspruch heraus. Und gegen keinen mit ungestümerem Drängen als gegen die Presse selbst.

Ein Haß, wie Kraus ihn auf die Journalisten geworfen hat, kann niemals so schlechthin in dem, was sie tun, fundiert sein – es mag so verwerflich sein wie es will; dieser Haß muß Gründe in ihrem Sein haben, mag es nun dem seinen so entgegengesetzt oder so verwandt sein wie immer. In der Tat ist aber beides der Fall. Die jüngste Darstellung des Journalisten charakterisiert ihn sogleich mit ihrem ersten Satze als »einen Menschen, der für sich selbst und seine Existenz, wie überhaupt für die bloße Existenz der Dinge, wenig Interesse hat, sondern die Dinge erst in ihren Beziehungen spürt, vor allem dort, wo diese in Ereignissen aufeinandertreffen – und der in diesem Moment selbst erst zusammen­geschlosssen, wesenhaft und lebendig wird.« Was man mit diesem Satz in Händen hält, ist nichts anderes als das Negativ des Bildes von Kraus. In der Tat: wer hätte für sich selbst und seine Existenz ein brennenderes Interesse gezeigt als er, der nie von diesem Thema loskommt, wer für die bloße Existenz der Dinge, ihren Ursprung, ein aufmerksameres, wen jenes Aufeinandertreffen des Ereignisses mit dem Datum, dem Augenzeugen oder der Kamera in hellere Verzweiflung versetzt als ihn? Endlich hat er seine gesamten Energien im Kampfe gegen die Phrase zusammengefaßt, die der sprachliche Ausdruck der Willkür ist, mit der die Aktualität im Journalismus sich zur Herrschaft über die Dinge aufwirft. ...“