Ausweichung

Ausweichung. (Musik) Ausweichen heißt in der Musik aus dem Ton, worin man eine Zeitlang den Gesang und die Harmonie geführt hat,1 in einen anderen Ton herüber gehen. Dieses geschieht in der heutigen Musik in jedem Tonstück, und in den längern Stücken vielmal, so wohl die nötige Abwechslung empfinden zu lassen als um den Ausdruck desto vollkommener zu erreichen.

  Allgemein bleibt der Gesang anfänglich eine Zeitlang in dem Tone, worin er anfängt; danach weicht er nach und nach in verschiedene andere Töne aus; und endigt sich zuletzt wieder in dem Hauptton, aus welchem das Stück gesetzt ist.

  Jeder Ton hat seinen eigenen Charakter, ein Gepräge, wodurch er sich von allen anderen unterscheidet. Das Ohr fühlt dieses, so bald der Ton, worin moduliert worden, verlassen und gegen einen anderen vertauscht wird. Aber ein Ton sticht gegen einen anderen mehr oder weniger ab; und darin verhalten sie sich, wie die Farben, unter denen ebenfalls mehr oder weniger Übereinkunft oder Verwandtschaft ist. Führt man den Gesang so durch verschiedene Töne, dass immer der folgende wenig von dem vorhergehenden absticht, so empfindet das Ohr eine angenehme Abwechslung, in welcher nichts abgebrochenes, nichts hartes, nichts ohne den genauesten Zusammenhang ist. Dergleichen Gesang schickt sich zu sanften und stillen Empfindungen. Hingegen würden solche, da der Affekt oft und plötzlich abwechselt, sehr wohl durch einen Gesang können ausgedruckt werden, der den Ton oft und plötzlich ändert und da die auf einander folgenden Töne stark gegen einander abstechen.

 Da überhaupt das Gehör in der Musik niemals beleidiget werden darf, so muss man diese Übergänge in andere Töne oder die Ausweichungen allemal so zu machen wissen, dass nichts gezwungenes, nichts abgerissenes darin sei: wiewohl auch dieses in Fällen, da ein widriger Affekt es erforderte, mit Vorteil könnte gebraucht werden.

  Nach diesen allgemeinen Anmerkungen sind hier zwei Punkte auszumachen. 1) Wie weicht man aus einer Tonart in eine andere aus? 2) Was hat man in Ansehung der Wahl der Tonart, in die man ausweichen will und der Zeit, in der man sich darin aufhalten kann, zu überlegen?

  1) Jede Tonart hat, wie bekannt, die ihr eigene Tonleiter, wodurch sie sich von allen anderen unterscheidet. In dieser Tonart moduliert man, so lange man keine andere Töne hören lässt als die in der Tonleiter derselben liegen: so bald aber ein anderer Ton gehört wird, so bekommt das Ohr einen Wink, dass man die bisherige Tonart verlassen, und in eine andere gehen wolle. Wenn man in C dur spielt und lässt irgendwo Fis oder Gis hören, so empfindet das Ohr, dass die bisherige Tonart soll verlassen werden; weil in der C dur eigenen Tonleiter C, D, E, F, G, A, H, weder Fis noch Gis vorkommt.

  Dieser bloße Wink aber ist noch kein wirklicher Übergang in einen anderen Ton; doch kündigt er die Ausweichung an. Diese Ankündigung muss nun so geschehen, dass der Ton, dahin man gehen will, bezeichnet werde oder dass das Ohr ihn erwarte. Folget auf diese Erwartung ein Akkord, der der neuen Tonart eigentümlich zugehört, so ist die Ausweichung vollendet und man befindet sich nun völlig in dem neuen Ton, in welchem man nun fort modulieren kann.

 Hier ist nun wieder die Frage, wie man den neuen Ton, dahin man ausweichen will, ankündige? dieses kann auf mehrerlei Weise geschehen und ist verschieden, nach Beschaffenheit des Tones, darin man ist. Der halbe Ton unter dem Haupttone, den man das Subsemitonium modi nennt, hat eine große Kraft, die Erwartung des nächsten halben Tones über sich zu erwecken. Auf den Ton Fis erwartet das Ohr G, auf Cis D u. s. f. Daher haben die französischen Tonlehrer diesen Ton Note sensible, die den Ton bezeichnende Note, genannt.

  Wenn also währender Modulation in einer Tonart ein Intervall um einen halben Ton höher genommen wird als es sich in der Tonleiter befindet, so erwartet das Ohr, dass der Grundton des nächsten Akkordes der Ton sein werde, der einen halben Ton über dem erhöhten Intervall liegt, wie in folgendem Beispiel: Man moduliert in C dur; die große Terz über den zweiten Ton D, ist der Tonleiter C dur fremd und erweckt die Erwartung einer Ausweichung und zwar natürlicher Weise in den halben Ton über den fremden Ton Fis. Folget nun in der nächsten Harmonie der Grundton G mit seinem Akkord; so ist die Erwartung erfüllt und man ist in G dur ausgewichen.

 Wenn also der Ton, in welchen man ausweichen will, in der Tonleiter dessen, darin man wirklich ist, sein Subsemitonium nicht hat, so dient dieses als ein fremder Ton, eine Ausweichung anzukündigen. Ist man in C dur, so hat keiner von den Tönen, D, E, G und A, ihren halben Unterton in der Leiter, folglich dienen die vorkommenden fremden Töne Cis, Dis, Fis, Gis, jeder den Ton anzukündigen, dessen große Septime er ist, Cis kündigt D an, Fis aber G u. s. f.

 Hat aber der Ton, in den man ausweichen will, seine große Septime schon in dem Ton, darin man ist, so dient sie nicht zu dieser Ankündigung. So hat der Ton F, seine große Septime E schon in der Tonart C dur. Will man nun in dieser den Ton F ankündigen, so kann E dieses nicht verrichten, weil es dem Ton, darin man ist, nicht fremd ist. Hingegen hat F seine Quarte in der Tonleiter C dur nicht. Folglich kann diese dienen, den Ton F anzukündigen, wie in folgendem Beispiel.

Die kleine Sexte in dem dritten Akkord lässt vermuten, dass die Modulation nach F dur gehen soll, dessen Quarte dieser fremde Ton ist. Dieses wird durch den folgenden Akkord noch mehr bestätitiget, da es offenbar wird, dass dieser fremde Ton nicht seine Untersexte D bezeichnen soll, wozu Cis nötig wäre, sondern den Ton F, dessen Quarte er ist.

 Will man in einen Ton ausweichen, der die kleine Tonart hat, so kann auch die Sexte, welche in diesen Tonarten klein ist, zur Bezeichnung derselben dienen. Wenn in C dur folgendes vorkäme:

so weiß man, in dem der Akkord D angeschlagen wird, noch nicht, ob dieses der Akkord auf den zweiten Ton des Haupttons C oder der Akkord eines neuen Grundtons D moll sein soll. Da aber in dem folgenden Akkord die kleine Terz b vorkommt, welcher die kleine oder natürliche Sexte zu D moll ist; so erwartet man, dass in diesem neuen Ton soll fortgefahren werden, welches durch den folgenden Akkord, da die große Terz als der halbe Unterton von D vorkommt, völlig bestätiget wird.

 Es ist also gezeigt worden, auf was Art der Ton, dahin man ausweichen will, könne angekündigt werden. Dieses geschieht allemal durch ein, dem Ton darin man ist, fremdes oder b.

 Man weicht aber in der Tat nicht allemal in die Töne aus, die auf diese Weise angekündigt werden. Bisweilen begnügt man sich, sie bloß zu berühren und doch in der Hauptmodulation fort zu fahren. Wenn also die Ausweichung auf die Art, wie beschrieben worden, angekündigt ist; so muss sie vollendet und der neue Ton völlig festgesetzt werden. Dieses geschieht dadurch, dass man von dem Akkord, auf welchem der neue Ton angekündigt worden, durch eine Kadenz in selbigen schließt. So wird in dem obigen mit A bezeichneten Beispiel, der Ton G dur durch die große Terz auf D angekündigt und durch die Kadenz festgesetzt. Hiemit ist also die erste Frage, wie man aus einer Tonart in eine andere ausweiche, beantwortet: nämlich man kündigt den neuen Ton durch ein dem Ton darin man ist, fremdes, dem Tone dahin man gehen will, eigentümliches, Intervall an und macht danach eine Kadenz in den angekündigten Ton.

 Will man sich indessen in dem neuen Tone nicht aufhalten, sondern davon gleich wieder in einen anderen gehen, so geschieht der Schluss nicht völlig, sondern man vermeidet ihn. Wie dieses geschehe, ist an seinem Orte gezeigt worden.2

 2) Was hat man aber in Ansehung der Wahl des Tones, dahin man gehen will und der Zeit, darin man sich in demselben aufhalten kann, in Acht zu nehmen? Hierbei muss man vor allen Dingen zwei Grundsätze annehmen, wodurch die Auflösung dieser Frage bestimmt wird. Der erste ist dieser: dass die auf einander folgenden Töne nicht zu stark gegen einander abstechen sollen, wodurch eine zu schnelle Veränderung des Charakters entstehen würde; es sei denn, dass der besondere Ausdruck es erfodere. Der zweite Grundsatz: dass der Hauptton, woraus ein Stück geht, bei den Ausweichungen in andere Töne niemals gänzlich aus dem Gehör zu verlieren sei. Geschähe dieses, so wäre eigentlich die Harmonie des Ganzen zerrissen; die Teile hätten nicht mehr den gehörigen Zusammenhang und es würde eine eben so schlechte Wirkung tun als wenn ein Gemälde in der einen Hälfte aus einem anderen Ton gemalt wäre als in der anderen. Nach dem ersten Grundsatz wird also erfordert, dass man, wo nicht ein höheres Gesetz des Ausdrucks es anders erfordert, immer in die nächst verwandten Töne auswei chen soll. Deswegen gehört die Betrachtung von der Verwandtschaft der Töne, von der besonders gehandelt worden ist,3 hierher. Dabei ist auch die Länge des Stücks in Betrachtung zu ziehen. In ganz kurzen Stücken, dergleichen kleine Lieder sind, hat man nicht nötig, in viele Töne auszuweichen. Man begnügt sich mit einer oder zwei Ausweichungen, von da man wieder in den Hauptton zurück geht und endigt. Ist ein Stück sehr lang, wie die Konzerte zu sein pflegen, so kann man in mehrere und so gar in alle Töne, die die Tonleiter enthält, ausweichen, wenn man nur immer von jedem auf einen nahe Verwandten geht. Sieht man den Ton, dahin man ausgewichen ist, wieder als einen neuen Grundton an, welches mit einigen Einschränkungen angehet, so kann man wieder aus diesem in alle andre, die seine Tonleiter enthält, ausweichen. Daher entsteht eine ungemein starke Mannigfaltigkeit der harmonischen Schattierungen.

 Will man sich aber bei der Mannigfaltigkeit der Ausweichungen nicht verlieren; so muss man den zweiten vorher angeführten Grundsatz nicht aus den Augen lassen. Dieser wird den Tonsetzer vor zwei Fehlern verwahren. Er wird ihn hindern, sich in den von der Haupttonart entfernten, wiewohl unmittelbar mit ihm verwandten, Tönen zu lange aufzuhalten. Denn dadurch würde man den Hauptton zu sehr aus dem Gehör verlieren. So wird der Hauptton C dur durch F dur ziemlich ausgelöscht, weil der die Tonart bezeichnende Ton das Subsemitonium h, in F dur ausgelöscht und in b verwandelt wird. Noch mehr geschieht dieses durch D moll, wo eben dieses b als die Sexte nötig ist, zugleich aber auch das C in Cis verwandelt wird. Wollte man sich also, wenn der Hauptton C dur ist, in F dur oder D moll feste setzen, so würde man den Hauptton gänzlich verlieren.

 Noch wichtiger ist es, dass man aus keinem unmittelbar mit dem Hauptton verwandten Ton in solche ausweiche, die fast alle natürliche Intervalle des Haupttons aufheben. Wollte man z. B. von C dur erst in A moll übergehen, welches leicht und ohne alle Härte geschehen kann, von diesem aber danach in seine Quinte ausweichen, welches ganz ungezwungen geschehen könnte, so würde durch die dem E dur natürlichen Töne, Cis, Dis, Fis und Gis, das Gefühl des Haupttons C dur wirklich ganz ausgelöscht werden. Da man auch allemal wieder auf denselben zurück kommen muss, so würde eine so sehr entfernte Tonart dieses zurück kehren auch sehr schwer machen.

 Hieraus folgt also, dass man die Töne, dahin man aus dem Haupttone unmittelbar ausgewichen ist, niemals ganz als solche Töne ansehen könne, die nun die Stelle des Haupttons vertreten, es sei denn in ganz langen Stücken, wo man Zeit hat, von denselben stufenweise wieder in den Hauptton zurück zu kehren.

 Man muss so gar in den Tönen, dahin man ausgewichen ist, bisweilen einige ihnen natürliche Intervalle ändern, um sie der Haupttonart gemässer zu machen. So muss man in D moll, wenn die Haupttonart C dur ist, zuweilen C an statt des zu D gehörigen Cis und bei F dur h statt des b nehmen, um das Gehör immer in dem Gefühl des Haupttons zu erhalten.

 In welchen Ton man ausgewichen sei, tut man wohl, so viel möglich, den Akkord des Haupttons oder seiner Dominante von Zeit zu Zeit hören zu lassen. Deshalb ist man noch nicht wieder in den Hauptton zurück gegangen; denn dazu wird ein Schluss erfordert. So kann in einem Stück, dessen Hauptton C dur ist, währender Modulation in den Tönen, dahin man ausgewichen ist, eben dieses C dur als der fünfte Ton von F als der vierte von G, als der dritte von A wieder vorkommen.

 Dieses ist das wichtigste, was in Ansehung der Ausweichungen zu beobachten ist. Damit man die natürlichsten Ausweichungen so wol als die schicklichsten Verweilungen in jedem Tone, mit einem Blick übersehen könne, haben wir, nach dem Beispiel, das Rousseau gegeben hat, folgendes als ein Modell beigefügt. Das mit A bezeichnete System ist als ein Modell anzusehen, in welche Töne man unmittelbar aus dem Ton C dur ausweichen und wie lange man sich verweilen könne, und dieses kann auf alle andere Durtöne angewendet werden. Die natürlichste Ausweichung ist in seine Quinte oder G dur; nach dieser ist die in die Sexte A moll die natürlichste u. s. f. die härteste ist in die Sekunde D moll.

  Die Geltung der Noten zeigt an, wie lange man sich in jeder Tonart im Verhältnis gegen den Hauptton aufhalten könne. Hätte man von Anfang acht Takte lang in dem Haupttone moduliert, so schicken sich vier Takte für die Dominante desselben, zwei für die Sexte, einer für die Terz, ein halber für die Quarte und nur ein Vierteltakt für die Sekunde.

 Ein ähnliches Muster für die Ausweichungen, wenn der Hauptton in der weichen Tonart ist, stellt das System B vor.

 In Ansehung der Tonart der Töne, dahin man ausweicht, nämlich, ob der neue Ton die harte oder weiche Tonart haben soll, ist die natürlichste und auf die Verwandtschaft gegründete Regel diese: dass die Quinte und Quarte die Art des Haupttons haben; die anderen aber die entgegen gesetzte. Also weicht man aus C dur in F dur und G dur aus; andere Töne aber nehmen die kleine oder weiche Tonart an. Der Grund dieser Regel ist leicht einzusehen. Nämlich allen großen Tonarten ist die große Septime und die große Sexte natürlich.4 Die Sexte wird die Terz, wenn man vom Grundton in seine Quarte ausweicht; weicht man aber in die Quinte aus, so wird die Septime zur Terz. Eben so lässt sich auch das übrige begreiffen.

 Damit auch dasjenige, was vorher von der beständigen Erneuerung des Gefühles von dem Hauptton angemerkt worden ist, deutlicher in die Augen falle, kann man sich noch folgenden Abriss der Nebenausweichungen vorstellen: Hauptton. C dur. Die oberste Reihe zeigt die Hauptausweichungen an oder die Töne, in welche man aus C dur unmittelbar ausweichen kann. Unter jedem sind die Nebenausweichungen verzeichnet. So kann man, nachdem man aus C dur nach G dur ausgewichen, aus diesem wieder unmittelbar in die unter ihm verzeichneten Töne ausweichen. Nur muss man, damit die Haupttonart nicht ganz ausgelöscht werde, in Acht nehmen, dass die mit * bezeichnete Töne bei dieser Nebenausweichung ihre Terzen und Quinten so behalten, wie die Tonleiter C dur sie angibt. Wäre man z. B. von C dur nach G dur ausgewichen und wollte nun von da nach D ausweichen, so müsste dieses jetzt D moll sein, weil F und nicht Fis der Haupttonart C zugehört. Man kann also überhaupt sagen, dass man die mit * bezeichneten Töne (als solche betrachtet, auf die man durch Nebenausweichungen kommt) nicht wohl nehmen könne, ohne die Haupttonart vergessen zu machen.

 

_________________

1 S. Ton.

2 S. Kadenz.

3 S. Verwandtschaft der Töne. Tonführung.

4 S. Tonart.

 


 © textlog.de 2004 • 13.10.2024 06:58:19 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z