Ansehen

Ansehen. (Schöne Künste) Der Charakter der äußerlichen Form einer Sache. Man sagt von einem Gebäude, es habe ein gutes oder schlechtes, ein edles oder gemeines Ansehen. Bei Personen ist das Ansehen das, was in der französischen Sprache Air genannt wird. Es entsteht aus dem ganzen der Form und ist von dem Charakter, der aus einzelnen Teilen entsteht, verschieden. Das Gesicht eines Menschen zeigt bisweilen einen anderen Charakter als derjenige ist, den seine ganze Person ausdrückt.

 Da die unbelebten Formen an einem anderen Orte betrachtet worden sind;1 so ist hier die Rede bloß von der menschlichen Gestalt, insofern ihr Ansehen ein Gegenstand der Kunst ist. Für den Maler, den Bildhauer und den Schauspieler, ist das Studium des Ansehens der wichtigste Teil der Kunst; dem Redner und dem epischen Dichter, ist selbiges unentbehrlich.

 Schon an sich selbst betrachtet, ist das Ansehen ein wichtiger Gegenstand der Künste; weil es eine sehr merkwürdige Sache ist, Eigenschaften eines denkenden und empfindenden Wesens, in körperlichen Formen zu entdecken.2 Also kann der Künstler, dem es gelinget einen Gemütscharakter oder auch nur einen vorübergehenden Gemütszustand, durch das Ansehen der Personen, genau abzubilden, gewisse Rechnung auf unseren Beifall machen. Selbst die bäuri schen Figuren eines Teiniers oder Ostade und der von Hogarth gezeichnete Pöbel,3 erwecken einiger maßen Bewunderung; auch würde ein Schauspiel, in welchem jede Person, durch ihr Ansehen, ihren Charakter oder ihren Gemütszustand, bestimmt zu erkennen gäbe, schon allein dadurch gefallen.

  Weit wichtiger wird die Wirkung des Ansehens in Werken, die auf etwas höheres als die bloße Belustigung ist, abzielen. Wir werden für oder wider Personen, Handlungen und Gesinnungen, durch das äußerliche Ansehen, mit unwiderstehlicher Kraft eingenommen. So wird uns Thersites schon durch sein Ansehen verächtlich, ehe er noch etwas getan oder geredet hat.

  Der Künstler also, der diesen Teil der Kunst in seiner Gewalt hat, ist Meister über unsere Empfindungen. Die höchste Wirkung der Kunst liegt in diesem Teile. Man sehe in welche Entzückung Winkelmann über das Ansehen eines bloßen Rumpfs gerät und erkenne daraus die Wichtigkeit des Ansehens.

 Es ist aber nur den größten Künstlern gegeben, hierin glücklich zu sein: Regeln wären hier vollkommen unnütze, wo das Genie allein wirken muss. Das einzige was man dem Künstler hierüber sagen kann, wenn man ihm das Studium der Natur empfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine höchst empfindliche Seele hat, die sich mit der größten Leichtigkeit, gänz lich in jeden Zustand setzen und ihrem Körper jede Gestalt geben kann. Man trifft bisweilen Menschen von sehr mittelmäßigen Gaben an, die mit der größten Leichtigkeit, das Ansehen jeder Person, annehmen. Diese sind geborene Schauspieler.

 Doch ist nicht zu zweifeln, dass nicht eine fleißige Übung auch mittelmäßige Anlagen zu diesem Talent, merklich verstärken sollte. Der Künstler, den eine genaue Aufmerksamkeit auf das Ansehen, überall begleitet; der alle Klassen der Menschen, der viele Völker gesehen und nicht bloß ins Auge, sondern fest in die Einbildungskraft gefasst hat, wird darin nicht ganz unglücklich sein; zumal wenn er sich unaufhörlich übet, sich selbst in jeden Gemüts-Zustand zu setzen. Die Einbildungskraft will, wie alle andere Fähigkeiten, beständig geübet sein.

  Der Ausdruck des Ansehens, den der epische Dichter in seiner Gewalt haben muss, ist vielleicht, das schwerste seiner Kunst. Da ihm nicht erlaubt ist in Beschreibung des Ansehens umständlich zu sein, so muss er mit wenig Zügen sehr viel auszudrücken wissen.

 Dem Redner ist die Kunst sich jede Art des Ansehens zu geben, von der höchsten Wichtigkeit. Denn dadurch wird er beredter als durch die Rede selbst. Wir empfehlen dem angehenden Redner dasjenige fleißig zu erwegen, was über die Wichtigkeit der Fassung ist erinnert worden.4 Er muss aber so gut als der Schauspieler, ein Proteus oder ein Ulysses sein, der alle Gestalten anzunehmen weiß. Denn mitten in der Rede, muss er, so oft er den Ton oder die Materie ändert, auch das, sich dazu schickende, Ansehen annehmen.

 

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1 S. Form.

2 S. Ähnlichkeit.

3 S. Hog. Kupfer zu Buttlers Hudibras.

4 S. Fassung.

 


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