Augenmaß

Augenmaß. (Zeichnende Künste) Die Fertigkeit, Formen, Größe und Verhältnisse mit solcher Genauigkeit ins Auge zu fassen, dass die Einbildungskraft eine ganz genaue Vorstellung davon hat. In zeichnenden Künsten ist das Augenmaß das erste und unentbehrlichste Talent. Wo dieses fehlt, da hilft weder Zirkel noch Maßstab. Der Zeichner muss, wie Michel Angelo sich auszudrücken pflegte, den Zirkel im Auge und nicht in der Hand haben und einer der größten Maler sagt: die erste Bemühung eines Anfängers soll sein, das Auge zur Richtigkeit zu gewöhnen; so dass er dadurch fähig werde, alles nachmachen zu können.1 Nach eben dieses großen Meisters Urteil, hat Raphael selbst einen guten Teil seiner Größe dem Augenmaß zu danken. Er setzt den Zeichner nicht nur in Stand, jeden Gegenstand nachzuahmen, sondern ihm auch einen Grad der Wahrheit zu geben, der mit großer Kraft rührt.2 Wer einmal von den in Papier ausgeschnittenen Bildern des bekannten Huberts von Genff etwas gesehen hat, wird die große Wichtigkeit des Augenmaßes lebhaft fühlen. Mit einer bewunderungswürdigen Wahrheit weiß dieser außerordentliche Künstler jeden Gegenstand bloß durch ausschneiden in Papier, ohne vorher gegangene Zeichnung, darzustellen.

Die Natur muss dazu, wie zu jedem Talente, die Anlage geben; aber eine lange Übung scheint doch allemal viel dazu beizutragen. Fast alle Maler, die zur Zeit der Wiederherstellung der Kunst gelebt haben, besaßen das Augenmaß in einem ziemlich hohen Grad. Man sieht viele Zeichnungen und Gemälde aus Albrecht Dürers Zeiten, die sich durch eine sehr starke Wahrheit empfehlen; schlecht gemalte Portraite, die bloß von der Wahrheit der Zeichnung einen großen Wert haben. Die Richtigkeit des Auges, sagt Mengs, hatten alle Maler dieser Zeit; hätten alle so gut als Raphael gewählt; so würden sie alle so gut als er gezeichnet haben.

3>/S> Dieses ist eine höchst wichtige Anmerkung für alle, die sich auf zeichnende Künste legen. Sich unaufhörlich im Augenmaß üben, ist schon die Hälfte der Kunst. Dahin zielt ohne Zweifel auch der dem <I>Apelles </I>zugeschriebene Wahlspruch: Nulla dies sine linea. ____________________1 Mengs über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei. Vorrede. S. XIV. 2 S. Wahrheit. 3 In dem angeführten Werk. S. 49.

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