Anakreon

Anakreon. Ein griechischer Liederdichter aus der Stadt Thejos in Ionien gebürtig. Er hat zu den Zeiten des Cyrus und Cambyses gelebt und sich meistenteils an dem Hofe des Polycrates, Tyrannen der Insel Samos aufgehalten, wie wohl er auch eine Zeitlang in Athen an dem Hofe des Tyrannen Hipparchus gelebt hat. Man hat noch ein und siebenzig Lieder und einige Uberschriften von ihm. Jene sind alle in dreifüßigen Jamben und scheinen recht eigen zu einem leichten fröhlichen Gesang abgemessen. Ihr Inhalt ist durchgehends die Fröhlichkeit, die den Genuß der Liebe und des Weines begleitet. Sie bezeichnen den Charakter eines feinen Wollüstlings, der sein ganzes Leben dem Bachus und der Venus gewidmet hat, dabei aber immer vergnügt und scherzhaft geblieben ist.

 Man muss also seine Lieder, bloß als artige Kleinigkeiten ansehen, die zum absingen in Gesellschaften gemacht worden, wo die sinnliche Lust durch feinen Witz sollte gewürzt werden. In dieser Absicht sind sie unvergleichlich. Eine große Munterkeit ohne alle ernsthafte Leidenschaft, ein überaus feiner Witz und die angenehmste Art sich auszudrücken, sind überall darin anzutreffen. Der Dichter sieht in der ganzen Welt und in allen Händeln der Menschen nichts als was sich auf Wein und Liebe bezieht; alles ist Scherz und Tändelei mit Beziehung auf diese beiden Gegenstände. Seine Laune ist die angenehmste von der Welt und lieblich, wie der schönste Frühlingstag. Auf die allerleichteste Art malt er tausend angenehme Phantomen, die mit wollüstigem Sumsen vor unserer Einbildungskraft herumflattern und versetzt uns in eine Welt, woraus aller Ernst, alles Nachdenken, verbannet ist, wo nichts als Schwärmereien einer leichten, die Seele wenig angreifenden Wollust herrschen.

  Hieraus ist zu sehen, dass diese Lieder nicht zum Lesen in einsamen und ernsthaften Stunden, die man besser anwenden kann, sondern als ein artiges Spiel zur Ermunterung in Gesellschaften und zur Erquikung des Geistes geschrieben sind. Sie sind ein Blumengarten, wo tausend liebliche Gerüche herum flattern, aber keine einzige nahrhafte Frucht anzutreffen ist.

 Anakreontische Lieder, werden alle die genannt, welche in dem Geiste des Anakreons geschrieben sind. Ihr leichter Inhalt erfordert eine leichte und kurze Versart, so wie Anakreon sie gebraucht hat.

Allgemein wird ein dreifüßiger jambischer Vers mit einer übrigen kurzen Silbe am Ende gewählt. Gleim ist der erste Deutsche, der glücklich in der Art des Anakreons gedichtet hat. Der Beifall, womit seine scherzhaften Lieder aufgenommen worden, hat eine Menge elender Nachfolger hervorgebracht, welche eine Zeitlang den deutschen Parnaß, wie ein Schwarm von Ungeziefer umgeben und verfinstert haben.

 Dass man an den allermeisten anakreontischen Gedichten der Neueren den Geist des Anakreons, sein scherzhaftes Wesen und seinen feinen ungekünstelten Witz vermisst, ist nicht das einzige, das man gegen diese Seuche einzuwenden hat, Die meisten Neueren sind in dem Fall jenes Jünglings, der den Philosophen Panätius gefragt hat, ob es einem Weisen auch wohl anstehe sich zu verlieben. Die Antwort des Weisen enthält eine große Lehre. Was dem Weisen geziemet, davon wollen wir einander mal sprechen: was mich und dich betrifft, die beide noch lange keine Weise sind, so schickt es sich für uns nicht, uns damit abzugeben.1

 

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1 De Sapiente videbimus: mihi et tibi qui adhuc a Sapiente longe absumus, non est committendum, ut incidamus in rem commotam, impotentem, alteri emancipatam, vilem sibi. Senecae Ep. CXVI.

 


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