Anstand

Anstand. (Redekunst) Die Übereinstimmung der Stellung, der Gebärden und der Stimme des Redners in einer Rede von gemäßigtem Inhalt, mit dem Charakter der Rede. Der Anstand hat bloß in dem gemäßigten Inhalt statt; denn wo dieser heftig ist und starke Leidenschaften zum Grunde hat, dass der Vortrag feurig wird; da wird der vollkommensten Übereinstimmung des Vortrages mit dem Inhalt niemals der Name des Anstandes gegeben. Er bleibt dem gesetzten Wesen und einer ruhigen Gemütsfassung eigen.

 In einer Rede von ernsthaftem Inhalt zeigt sich der Anstand in einer ernsthaften und ruhigen Stellung, in mäßigen Bewegungen, einer männlichen und etwas langsamen Stimme und einer geraden Kopfstellung und etwas niedergezogenen Augenbrahmen. Ist der Inhalt vergnügt, aber von gemäßigter Freude; so besteht der Anstand in einer mäßig muntern Stellung, in angenehmen und sanften Bewegungen des Körpers, in einem etwas mehr aufgerichteten Kopf, offenen und fröhlichen Blicken und einer angenehmen hellen Stimme. Überhaupt sind Bescheidenheit, Mäßigung der Stimme und aller Bewegungen, die wesentlichsten Stücke des Anstandes: hingegen hebt alles weit getriebene und heftige den Anstand auf. Eine stille Größe, die uns beständig in einer ruhigen Fassung lässt und alle Aufmerksamkeit, ohne die geringste Zerstreuung, auf das Wesen der Sache heftet, macht die Vollkommenheit des Anstandes aus.

 Dass der Anstand eine große Kraft auf die Gemüter der Zuhörer habe, ist eine bekannte Sache, aber sie wird nicht allemal in genugsame Überlegung gezogen. Der Mangel desselben vermindert die Wirkung der Rede so sehr, dass er sie bei nahe ganz auf hebt.

 Eines der vornehmsten Mittel, den Anstand im Reden zu erreichen, ist die Sicherheit des Redners. Wenn er seine Rede mit der besten Sorgfalt so ausgearbeitet hat, dass er sich ihrer versichern kann; so erweckt dieses ein Zutrauen auf seinen Vortrag: dieses aber überhebt ihn aller ängstlichen Bestrebung, es lässt seine Seele in der Ruhe, die dem Anstand wesentlich ist. Wenn aber der Redner in die Stärke seiner Vorstellungen ein Misstrauen setzt, dann sucht er die ihr mangelnde Kraft durch den Vortrag zu ersetzen; er will mit Stimme und Gebärden die Wirkung erzwingen und verlieret darüber den Anstand.

 Der Redner bedenke allemal, dass die Hauptsache der Rede in der Materie liegt und dass der Vortrag sie nur verstärkt, aber ihren Mangel niemals ersetzt. Deswegen vermeide er die unnütze Bestrebungen, seinen Worten durch den Vortrag eine Kraft zu geben, die ihnen mangelt. Der Pantomime, der kein ander Mittel hat, verständlich zu sein als die Gebärden, muss darin die ganze Kraft der Vorstellung setzen; der Redner aber muss dadurch eine schon vorhandene Kraft bloß unterstützen.

  Große Fehler gegen den Anstand sind, eine übertriebene Stimme auf einer Seite und eine ganz nachlässige auf der anderen; ein zu schneller Vortrag schadet ihm mehr als wenn er zu langsam ist. Am allermeisten aber schadet ihm die Unbescheidenheit des Redners, wenn er seine Zuhörer mit dreisten Blicken gleichsam mustert oder zu seiner Bewunderung auffordert; wenn er einen zu dreisten oder zu kühnen Ton annimmt. Der Anstand will, dass der Redner seine Sache, und nicht seine Person sehen lasse; dass er bescheiden und gerade vor sich hin sehe und wenn es nötig ist, sich sanft und bescheiden gegen eine andere Seite hinwende. Doch muss er auch nicht zaghaft sein, sondern ein mäßiges Zutrauen in seine Vorstellungen von sich blicken lassen. Er muss seine Zuhörer als eine Versammlung ansehen, welcher er Hochachtung schuldig ist, aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn ungehört verurteilen.

 Ein angehender Redner, der dieses wohl und ernstlich überlegt, wird bald zu einem gewissen Anstand in seinem Vortrage kommen. Aber die Vollkommenheit desselben ist vielleicht der schwerste Teil dessen, was zum Vortrage gehört.

 


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