Studium

Studium. (Schöne Künste) Zu einem vollkommenen Künstler werden drei Dinge zugleich erfordert, Genie, Kenntnis und Fertigkeit. Das erste gibt die Natur, das zweite wird durch das Studium und das dritte durch Übung erlangt. Wir verstehen also durch Studium alle Bemühungen, die der Künstler anzuwenden hat, um die Kenntnisse jeder Art, die ihm nötig sind, zu erlangen. Bisweilen gibt man dem Wort auch eine weitere Bedeutung und begreift auch die Übung selbst mit darunter; wir sprechen aber von dieser besonders. Doch schließen wir die Übung nicht ganz vom Studium aus; denn es gehört noch einigermaßen mit zum Studieren, dass man sich in der Fertigkeit zu sehen und zu empfinden übe. Der Maler muss sein Aug, der Tonsetzer sein Ohr und jeder Künstler überhaupt Verstand, Geschmack und Empfindung an allen Gegenständen der Kunst üben; und dieses ist von der eigentlichen Übung, das, was man empfunden hat, auszudrücken, unterschieden und kann noch zum Studium gerechnet werden.

Wenn man Natur und Kunst gegeneinander stellt, in der Absicht zu erforschen, was jede zum vollkommenen Künstler beitrage, so gehört auch das Studium zur Kunst: und so hat es Horaz ohne Zweifel verstanden, wenn er beiden einen gleichen Anteil an der Vollkommenheit eines Werks zuschreibt. Das Genie und was man überhaupt Gaben der Natur nennt, sie bestehen in äußerlichen oder innerlichen Fähigkeiten, machen eigentlich die Grundlage des Künstlers aus; aber man würde sich sehr betrügen, wenn man glaubte, dass außer dem denn weiter nichts, als äußerliche Übung in dem Mechanischen der Kunst hinzukommen müsse. Man betrachte nur die Werke der Künstler, die vorzügliches Genie zeigen, wie Homer oder Shakespear; so wird man sich bald überzeugen, dass sie die Gegenstände ihrer Kunst mit weit mehr Fleis und Genauigkeit betrachtet und überlegt haben als andre Menschen tun und dass eben dieses ihr Genie in stand gesetzt hat, sich in dem hellen Lichte zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schilderung sichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis einmischt, bemerkt man einen Menschen, der mit ausserordentlicher Aufmerksamkeit jeden Gegenstand betrachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau Acht hat und es recht gefließentlich darauf anlegt, ihn in der höchsten Klarheit und Lebhaftigkeit zu sehen. Eben so deutlich erhellt aus Shakespears sittlichen und leidenschaftlichen Schilderungen, dass er sich ein ernstliches Studium daraus gemacht hat, jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenschaft, bis auf das Innerste ihrer Beschaffenheit zu erforschen. Es ist deswegen eben so wichtig zu studieren, als Talente zu haben; denn beides muss da sein, wenn der Künstler groß werden soll.

Aber es ist bei der Theorie der Kunst nicht genug, dass man den Künstler von der Notwendigkeit des Studierens überzeuge, man muss ihm auch sagen, wie er sein Studium am vorteilhaftesten einzurichten habe. Mancher geht lang in der Irre herum und gibt sich viel Müh, die ihm zuletzt wenig hilft, weil er auf Nebensachen studiert hat. Diejenigen Kunstrichter und Künstler, die gründlichen Unterricht zu der vorteilhaftesten Art in jeder Kunst zu studieren, gäben, würden dadurch jungen Künstlern einen sehr wichtigen Dienst erweisen. Wir halten eine aus der Natur der Sachen hergeleitete Anweisung zum Studieren für nützlicher als alle Regeln, weil das wahre Studium jeden die Regeln selbst erfinden lässt. Von dem allgemeinen Studieren, das überhaupt die Aufklärung des Verstandes und Erweiterung der Vorstellungskraft zum Zweck hat und wodurch nicht nur der Künstler, sondern jeder andere Mensch, der sich künftig in Geschäften, die vorzügliche Gemütsgaben erfordern, hervortun soll, zu seinem Beruffe vorbereitet wird, wollen wir hier nicht sprechen; weil es den zukünftigen Künstler nicht allein angeht. Doch können wir nicht unangemerkt lassen, dass jede Übung, wodurch die verschiedenen Anlagen des Genies überhaupt entwickelt werden und jede Kenntnis, die den Gesichtskreis des Menschen überhaupt erweitert, auch dem Künstler höchst nützlich sei. Es hat zwar große Künstler gegeben, die von den Schulstudien völlig entblößt gewesen. Aber es lässt sich allemal vermuten, dass Unwissenheit und engere Schranken des Verstandes, die aus Mangel gründlicher Schulstudien herkommen, auch solche große Künstler in manchem Stück in der Kunst selbst einschränken. Man sagt, dass dem großen Raphael die Einsichten einiger vortreflicher Männer von großer Gelehrsamkeit, die er sich zu Freunden gemacht hat, in manchem Werke, wobei der Mangel an Studien sein Genie etwas würde gehemmt haben, sehr nützlich gewesen. Darum würden wir allemal raten, dem künftigen Künstler, so viel es ohne den Kunstübungen Abbruch zu tun, geschehen kann [s. Übungen], eine so genannte gelehrte Erziehung zu geben. Wenn sie nur gründlich ist, so wird sie ihn gewiss künftig in der Kunst selbst einige Grade höher heben, die er ohne dieselbe nicht würde erreicht haben.

Wir haben aber hier eigentlich nur das Studium zu betrachten, dass der Künstler bei reiffern Jahren und bloß in Absicht auf seine Kunst zu treiben hat. Dieses geht auf folgende Hauptpunkte: 1. Auf allgemeine Kenntnis des Menschen. 2. Auf Kenntnis der besonderen Charaktere und Sitten, ganzer Völker und einzelner Menschen. 3. Auf Kenntnis der sichtbaren Natur und 4. auf Kenntnis der Kunstwerke und der Künstler:

1. Im Grunde sind die schönen Künste nichts anders als Künste gewissen Absichten gemäß, auf die Gemüter der Menschen zu wirken [s. Künste]: und hieraus erhellt hinlänglich, wie wesentlich notwendig jedem Künstler die Kenntnis der menschlichen Natur ist. Wie könnt' er ohne sie wissen, was in jedem Fall erfordert wird, Eindrücke von gewisser Art auf die Gemüter zu machen? Dieses Studium muss der Künstler mit genauer Beobachtung seiner selbst anfangen. Er muss sich angewöhnen, auf alles, was in ihm selbst vorgeht, Acht zu haben und vornehmlich jede Rührung, die mit merklicher Lust oder Unlust verbunden ist, folglich Begierd' oder Abneigung erweckt, genau zu beobachten. Ein Mensch der sich selbst nie klar und bestimmt bewußt ist, was er denkt und empfindet, kann auch andere nicht kennen lernen. Wie so viel tausend Menschen täglich sprechen, ohne jemals auf die Sprache, deren sie sich bedienen Acht zu haben, um zu unterscheiden, wie vielerlei Arten der Wörter vorkommen und wie einige davon die Dinge, von denen man spricht, bloß bezeichnen, andere ihre fortdauernde Beschaffenheit, noch andere vorübergehende Veränderungen darin ausdrucken u.s.w.; so geht es auch überhaupt denen, die kein besonderes Studium daraus machen, mit der Kenntnis ihrer selbst; sie reden, handeln, fühlen sich bald angenehm, bald unangenehm gerührt u.s.w. ohne sich jemals der Dinge, die in ihnen vorgehen, deutlich bewußt zu sein. Sie empfinden jede Leidenschaft, ohne von einer einzigen sagen zu können, was sie eigentlich ist und wie sie entsteht; sie haben Gefallen oder Missfallen an vorkommenden Dingen und wissen nie zu sagen, was ihnen eigentlich daran gefällt oder missfällt. Solche Menschen gehören zum gemeinen Haufen, der überall mechanisch handelt, wie die Umstände es veranlassen, ohne recht zu wissen, was er tut oder warum er so und nicht anders handelt.

Der Künstler, der sich selbst so wenig beobachtete, würde noch weit weniger wissen, was in den Gemütern anderer Menschen vorgeht, folglich zu den wichtigsten Werken der Kunst untüchtig sein. Durch fleißiges Nachdenken über seine Gedanken, Empfindungen, deren Veranlassung und Beschaffenheit aber wird er auch im Stand gesetzt, andere Menschen kennen zu lernen.

2. Allgemeine Kenntnis der menschlichen Natur ist dem Künstler noch nicht hinlänglich, er hat mehr, wie jeder andere nötig, die mancherlei Charaktere und Sitten der Menschen zu kennen. Denn diese sind der wichtigste Stoff, den jede Kunst bearbeitet, darum muss er ein besonderes Studium daraus machen, so vielerlei Menschen als ihm möglich ist, kennen zu lernen. Er muss sich die Gelegenheit machen, viel mit Menschen von allerlei Art, Stand und Charakter umzugehen; vornehmlich aber diejenigen besonderen Gelegenheiten zu Nutze machen, wo interessante Geschäfte sie in volle Wirksamkeit setzen, da sich die Stärke des Genies und die Wärme des Herzens frei entwickeln können. Es ist nicht möglich die Kenntnisse dieser Art, die dem Künstler notwendig sind, anders als durch einen ziemlich ausgebreiteten Umgang zu erlangen; aber auch dieser würde wenig nützen, wenn der Künstler nicht unaufhörlich die Aufmerksamkeit gleichsam gespannt hielte, um alles, was das Innere der Menschen verrät, auf das genaueste zu bemerken.

Dieses Studium der Charaktere der Menschen wird aber erst dann recht nützlich, wenn man hinlängliche Kenntnis der mancherlei Arten der Geschäfte, der Angelegenheiten und mancherlei durch einander laufenden Interessen, des öffentlichen und Privatlebens hat. Darum sollte der Künstler sich auch angelegen sein lassen, diese Kenntnisse zu erwerben. Er kann damit anfangen, dass er erst das Volk oder die bürgerliche Gesellschaft in der er lebt, nach den verschiedenen Ständen, Geschäften und Angelegenheiten jedes Standes, genau kennen lernt: denn kann er aus der Geschichte andere Völker und Staaten damit vergleichen und so allmählich zu einer guten Kenntnis der Welt und des menschlichen Geschlechts gelangen.

3. Hierzu muss nun auch das Studium der sichtbaren Natur kommen. Man ruft dem Künstler von allen Orten her zu, die Natur sei die wahre Schule, wo er seine Kunst lerne könne; aber er muss auch wissen, wie er in dieser Schule studieren soll. Die Natur ist im eigentlichen Verstande die Lehrmeisterinn des Künstlers; weil sie gerade auf den Zweck arbeitet, den auch die schönen Künste sich vorsetzen [s. Künste]. Der allgemeine Charakter der Werke der Kunst [s. Werke der Kunst] ist in allem, was die Natur hervorgebracht hat, anzutreffen. Durch tägliches Betrachten derselben wird der Geschmack gebildet. Gefühl des Schönen, der Einheit und Mannigfaltigkeit, Übereinstimmung der äußern Form mit dem innern Charakter, der Harmonie aller Teile, der Wahrheit und Vollkommenheit und kurz jeder Eigenschaft eines ganz vollkommenen Werkes, wird durch fleißiges und überlegtes Beobachten der mannigfaltigen Werke der Natur notwendig geschärft. Zu diesem allgemeinen Vorteil kommt noch der besondere, dass die meisten Künste ihren zu bearbeitenden Stoff, die redenden aber ihre Bilder, zu Gleichnissen, Vergleichungen und Metaphern, in großem Reichtum und Mannigfaltigkeit darin antreffen. Darum erleichtert die Kenntnis der Natur dem Künstler die Erfindung und gibt ihm einen Reichtum sinnlicher Vorstellungen, die er auf das Vorteilhafteste brauchen kann. Man wird daher fast immer finden, dass vorzügliche Künstler sehr genaue und fleißige Beobachter der ganzen sichtbaren Natur sind, die ihr Aug' auf alles, was ihnen vorkommt, mit einer Art von unersättlicher Gierigkeit werfen. Und es geschieht nicht selten, dass man das Vergnügen hat, Dinge, die uns in den Werken großer Künstler am meisten gefallen und die wir ihrer Erfindungskraft zugeschrieben haben, endlich in der Natur anzutreffen.

4. Endlich ist auch besonders das Studium der besten Kunstwerke selbst, eine sehr vorteilhafte Sache für den Künstler. Es ist eine allgemein erkannte Wahrheit, dass Beispiele, wo nicht besser, doch schneller unterrichten als Regeln; diese Beispiele nun findet man in den Werken der besten Künstler. Wer Genie zu einer Kunst hat, bekommt so gleich bei Betrachtung vorzüglicher Werke, mehr Licht, über das Praktische derselben als ein langer Unterricht ihm geben könnte. Zu einem vollkommenen Werke der Kunst gehören so sehr vielerlei Dinge; es ist auch von dem besten Kunstgenie nicht zu erwarten, dass es gar alle von selbst erreichen werde. Ein Künstler ist in einem Punkt vorzüglich, ein anderer in einem anderen. Darum werden nicht eher Werke, die in allen Teilen vollkommen sind, an den Tag kommen, bis große Künstler vielerlei Werke ihrer Vorgänger gesehen haben, in denen sie Stückweise jeden einzeln Teil der Kunst in seiner Vollkommenheit erblicken. Man sagt von dem großen Raphael selbst, dass er nicht eher zu der Höhe gekommen, in der wir ihn jetzt bewundern, bis er die Gemälde des Michel Angelo gesehen hat. Für junge Künstler könnte nichts wichtigeres getan werden als dass jeder vorzüglich große Künstler aufrichtig öffentlich bekannt machte, was er in einem oder dem anderen Teile der Kunst, aus Betrachtung fremder Werke, gelernt hat.


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