Singstück

Singstück. Diesen Namen gibt man allen Tonstücken, worin eine oder mehrere Singstimmen vorkommen, sie mögen von Instrumenten begleitet sein oder nicht. Die Singstimme ist in diesen Stücken die Hauptstimme, auf welche der Tonsetzer sein ganzes Augenmerk richten muss. Aber nicht jedem ist es gegeben, in Gesangsstücken glücklich zu sein; am wenigsten denen, die selbst nicht singen können, noch das Singende in ihrer Gewalt haben. Denn hier kommt es nicht bloß auf harmonische Kenntnisse und auf den reinen Satz allein an, nicht bloß auf Erfindung und richtige Anordnung mancher Sätze, damit sie ein wohlklingendes Ganzes ausmachen, nicht auf künstlich angebrachte Kontrapunkte, sondern auf einen mit Kunst und Geschmack gesetzten fließenden Gesang: Alles wodurch ein Instrumentalcomponist sich hervortun kann, ist einem Singkomponisten, der uns rühren soll, noch nicht hinlänglich. Er muss überdem ein vorzüglich empfindsames Herz haben, das allen leidenschaftlichen Eindrücken offen steht; er muss ein Beobachter der menschlichen Leidenschaften sein, insofern jede sich durch ihren eignen Ton und durch die Gemütsbewegungen, die sie hervorbringt, äußert; er muss im Stande sein, diesen Ton und jede Gemütsbewegung in den Worten, über welche er setzen soll, genau zu entdecken und so deutlich in dem Gesang auszudrücken, dass seine Melodie zu einer leidenschaftlichen Sprache werde, in welcher kein Satz, keine Fortschreitung, kein Ton befindlich, der nicht, wie von der Leidenschaft erzeugt, da stehe, die überdem ein regelmäßiges Ganze sei, dem die Worte nicht den geringsten Zwang antun; er muss auch noch ein vollkommener Decklamator sein und Hauptworte von Nebenworten, Hauptsätze von Nebensätzen mit ihren Unterarten schon in der Aussprache zu unterscheiden wissen. So viel wird von einem Instrumentalkomponisten, der auch ergötzen kann, wenn er in seinen Stücken bloß einer schwärmerischen Phantasie folgt, nicht gefordert. Es ist ungleich schwerer für das Herz als bloß für die Einbildung zu arbeiten. Diese fängt bei der geringsten Veranlassung, bei ein paar auf einanderfolgenden Akkorden, Feuer; jenes will gerührt sein. Dem Singkomponisten werden zwei Hilfsmittel an die Hand gegeben, die ihm, sich des Herzens seiner Zuhörer zu bemächtigen, mächtiglich unterstützen. Diese sind: die Worte und die menschliche Stimme. Jedes für sich vermag oft schon viel über das menschliche Herz; tut nun noch der Tonsetzer das Seinige, so wird ihm Niemand ungerührt zuhören: kein Herz wird den Eindrücken wiederstehen können, die der Zusammenfluss der Worte, des Gesangs, der menschlichen Stimme und der harmonischen Begleitung macht.

Wie es scheint, werden zu einem vollkommenen Singstück, es sei welcher Art es wolle, folgende Stücke erfordert.

 1) Es muss ohne Rücksicht auf den Ausdruck einen Charakter in der Schreibart haben, der den Worten angemessen ist. Ernsthaft im Kirchenstyl, glänzend im Kammerstyl und affektvoll im Theaterstyl.

 2) Die Singstimme oder Singstimmen müssen den Hauptgesang führen, in denen sich die vorzustellende Leidenschaft vorzüglich schildert. Wird dieser Gesang von Instrumenten begleitet, so muss er niemals durch diese verdunkelt werden, sondern sie müssen ihm nur zur Unterstützung dienen.1

 3) Unter den begleitenden Instrumenten sowohl als in der Art der Begleitung, muss nach dem Ton der vorzustellenden Leidenschaft eine geschickte Auswahl getroffen werden.

 4) Taktart, Bewegung und Rhythmus müssen mit der Gemütsbewegung, die die Leidenschaft erzeugt, übereinstimmen. Es versteht sich, dass die Worte auch danach eingerichtet sein müssen.

 5) Die Melodie über den Worten muss sich in Ansehung der höheren und tieferen Töne, der steigenden oder sinkenden Fortschreitung, der Einschnitte und Abschnitte, genau nach diesen richten und einfach sein, damit die Worte nicht zerrissen werden.

 6) Die gewöhnliche Ausdehnung der menschlichen Stimme muss in den Singstimmen nicht überschritten werden, es sei denn, dass man für Stimmen schreibe; die über die gewöhnliche Ausdehnung hinausgehen.

 7) Daneben muss ein Singstück nach Beschaffenheit des Ausdrucks voll von sanfter oder frappanter Modulationen, Abwechslungen des Einförmigen mit dem Mannichfaltigen, immer unterhaltend, singend, aber nicht gemein, mit Kunst gewürzt, harmonisch richtig und ohngeachtet des Zwanges der Worte, ein vollkommenes und regelmäßiges Ganze sein.

Was zum Ausdruck der Singstücke gehöre, davon ist schon an einem anderen Ort gesprochen worden.2

 Man teilt die Singstücke in solche ein, worin nur bloß eine Singstimme den Hauptgesang führt; dergleichen sind Lieder, die oft auch ohne alle Instrumentalbegleitung sind, die Arien und Rezitative; und in solche, wo mehrere Stimmen zusammen singen, die wiederum in solche abgeteilt werden können, wo die Stimmen gegen einander konzertieren als Duette, Terztte u. d. gl. und in solche wo die erste Singestimme den Hauptgesang hat und von den übrigen begleitet wird, dergleichen sind Choräle, einige Motetten und Chöre. Von der Einrichtung dieser besonderen Arten der Singstücke aber ist in ihren Artikeln gesprochen worden.

 

_______________

1 S. Ripienstimmen.

2 S. Ausdruck S. 111 . u. Melodie.

 


 © textlog.de 2004 • 15.10.2024 12:37:21 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z