Sinnlich

Sinnlich. (Schöne Künste) Eigentlich wird das sinnlich genannt, was wir durch die äußern Sinne des Körpers empfinden; man hat aber die Bedeutung des Wortes auch auf das ausgedehnt, was wir bloß innerlich, ohne Zutun der körperlichen Sinne empfinden, wie Begierde, Furcht, Liebe u. d. gl. Dieses Sinnliche das man auch empfindbar nennen könnte, wird von dem Erkennlichen, wenn ich dieses Wort brauchen darf, unterschieden. Man hat nämlich bemerkt, dass diese zwei Arten, sich etwas bewußt zu sein, da man etwas erkennt oder da man etwas empfindet, sehr von einander verschieden seien, und das, was man empfindet, sinnlich genannt. Weil es zur Theorie der schönen Künste notwendig ist, dass man den Unterschied zwischen Erkennen und Empfinden, genau bemerke, indem diese Künste sich von den Wissenschaften darin unterscheiden, dass jene für das Empfinden, diese für das Erkennen, arbeiten, so müssen wir die Begriffe hierüber genau entwickeln.

 Wir sagen, dass wir etwas erkennen, fassen oder begreifen, wenn wir seine Beschaffenheit wahrnehmen und wir erkennen die Sache deutlich, deren Beschaffenheit wir anderen beschreiben oder erklären können. Beim Erkennen schwebt also unserem Geist etwas vor oder wir sind uns einer Sache bewußt, die wir als etwas von uns selbst, das ist von unserer wirkenden Kraft verschiedenes ansehen und wir nennen dieses den Gegenstand der Erkenntnis. Hingegen sagen wir, dass wir etwas empfinden, wenn wir uns einer in uns, in unserer eigenen Kraft, vorfallenden Veränderung bewußt sind; wenn wir uns jetzt anders gerührt oder in einem anderen Zustand versetzt finden als wir vorher waren. Das Empfinden geht unmittelbar unseren inneren Zustand an; denn bei jeder neuen Empfindung sind wir uns einer Verändrung in uns selbst bewußt; das Erkennen geht auf etwas, das wir als von uns getrennt, ansehen. Beim Erkennen sind wir Zuschauer dessen, was vorgeht; beim Empfinden sind wir selbst das Ding, mit dem etwas veränderliches vorgehet, und dieses Veränderliche beobachten wir nicht als etwas, das von uns verschieden ist, sondern als etwas, das in unserer Wirksamkeit liegt. Beim Empfinden ist die Aufmerksamkeit ganz auf uns und auf die Veränderung in unserem inneren Zustand gerichtet; beim Erkennen aber geht sie auf etwas von uns verschiedenes. Am leichtesten zeigt sich dieser Unterschied, in den beiden Fällen, da wir selbst vermittelst der äußern Sinne etwas bloß empfinden oder erkennen. Wenn wir Wärme oder Kälte fühlen und bloß auf das Gefühl selbst Acht haben, ohne auf das Feuer oder die kalte Luft, wodurch es bewirkt wird, Achtung zu geben, so beschäftigen wir uns bloß mit uns selbst. Wir finden uns in einem Zustande, der etwas eigenes, von jedem anderen Zustand verschiedenes hat. Hier ist uns nichts von uns verschiedenes, nichts als außer uns sich veränderndes gegenwärtig; wir fühlen allein uns selbst; unsere uns gefallende oder missfallende Existenz. Gefällt uns dieser Zustand, so nennen wir die Empfindung angenehm, genießen sie und wünschen darin zu verharren oder sie noch stärker zu genießen. Missfällt uns der Zustand, so äußert sich in der Kraft, die wir als unser eigenes Wesen empfinden, ein Bestreben nach einem anderen Zustande. Kurz, in beiden Fällen sind wir ganz mit uns selbst beschäftigt oder wir empfinden nur uns selbst.

  Mit diesem Falle vergleiche man den, da wir einen sichtbaren Gegenstand erblicken, dessen Beschaffenheit wir beobachten. Hier unterscheiden wir das, was uns beschäftigt, sehr genau von uns selbst. Denn wir sehen es als außer uns an. Die Aufmerksamkeit hat hier ein Ziehl, das außer uns zu liegen scheint und unsere angenehme oder unangenehme Existenz nichts angeht. Je stärker wir unsere Aufmerksamkeit auf die Beschaffenheit des Gegenstandes richten, je mehr vergessen wir uns selbst. Unsre Wirksamkeit geht nun darauf in dem Gegenstand mehr zu sehen, das Mannigfaltige darin zu entdecken, und uns selbst Rechenschaft davon zu geben. Hierbei äußert sich, indem wir zu erkennen suchen, nicht das geringste Bestreben, etwas in unserer Existenz zu ändern, wir wollen nur sehen, mehr oder genauer sehen, uns selbst wollen wir nicht anders fühlen.

 Dieses ist der Unterschied zwischen Empfinden und Erkennen. In so fern nun ein Gegenstand auf die Empfindung wirkt oder das Empfinden verursacht, wird er sinnlich genannt und insofern er uns zum Erkennen, zum Erforschen anreizt, wollen wir ihn erkennlich nennen. Man sieht hier sogleich, dass ein und eben derselbe Gegenstand sinnlich oder erkennlich ist, je nachdem er auf uns wirkt. Ein schönes Juweel kann bei einem eitelen Menschen plötzlich den Wunsch erwecken, es zu besitzen und sich damit zu schmücken; denn wirkt es Empfindung und ist insofern ein sinnlicher Gegenstand: bei einem Juwelierer macht es vielleicht bloß die Neugierde rege; er will es näher sehen, genauer betrachten, gibt auf seine Form, auf den Glanz, auf die Beschaffenheit der einzeln Teile, Achtung, schätzt seinen Wert u.s.w. Diesem ist es ein Gegenstand der Erkenntnis und insofern nicht sinnlich, ob er gleich durch den Sinn des Gefühls erkannt wird.

 Sinnlich heißt also jeder Gegenstand, dessen Gegenwart in unserer Vorstellung wir unmittelbar empfinden und mit dessen Betrachtung oder näheren Erforschung wir uns nicht abgeben, wenn wir den Eindruck davon gleich durch keinen der äußern Sinne bekommen haben. Jeder Begriff, jede Vorstellung in uns, sie sei entstanden wie sie wolle, ist sinnlich, insofern wir uns der Empfindung die sie erweckt allein überlassen, ohne näher zu untersuchen, wie die vorgestellte Sache beschaffen ist; das ist, insofern wir bloß auf ihre Gegenwart, auf das Empfinden derselben Achtung geben. Deswegen heißt auch jeder confuse Begriff, den ein Wort in uns erweckt und dessen Beschaffenheit wir nicht näher erforschen, sondern zufrieden sind mit dem, was wir dabei empfinden, ohne es weiter zu entwickeln, ein sinnlicher Begriff. Es ist uns dabei als ob wir ihn bloß aus Anschauen, ohne Nachdenken gegenwärtig haben und wir beschäftigen uns bloß mit dem Eindruck, den er auf uns macht.

  Vorzüglich sinnlich oder stark sinnlich, wollen wir die Vorstellungen nennen, die starkes Empfinden erwecken, bei dem wir uns verweilen; ein Empfinden, das nicht schnell vorübergeht, sondern uns gleichsam nötigt, auf unser Gefühl oder unseren inneren Zustand Achtung zu geben. Also sind nicht alle durch äußere Sinne erweckte Begriffe vorzüglich sinnlich. Einige erwecken so schwache Empfindung, dass man sie kaum gewahr wird oder sie verursachen eine so schnelle Untersuchung ihrer Beschaffenheit, dass man dabei sogleich in den Zustand der Betrachtung und des spekulativen Denkens gerät.

Dieses aber hängt nicht allemal bloß von der Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern gar oft von unserer Sinnesart ab. So ist der Grundriss eines großen Gebäudes für einen, der die Baukunst versteht, eine geometrische Figur, für einen Mathematiker, zwar im allgemeinen Sinn, ein sinnlicher Gegenstand; aber er lockt ihn sogleich auf seine nähere Betrachtung und Erforschung des Einzelnen darin; dadurch hört er auf sinnlich zu sein.

  Erkennlich oder spekulativ ist jeder Gegenstand, den man ohne genaues Bemerken und Erforschen seiner Beschaffenheit nicht erkennen oder im Geiste gegenwärtig haben kann. Von dieser Art ist jeder deutliche Begriff; weil man ihn gar nicht fasst, wenn man nicht seine Beschaffenheit oder das Einzelne, was in ihm liegt, durch genaues Beobachten und Nachdenken, bemerkt. Vorzüglich rechnen wir zum Erkennlichen die Gegenstände, die man zwar ohne Nachdenken sich vorstellen kann, die aber sogleich die Vorstellungskraft zu einer näheren Betrachtung und Erforschung ihrer Beschaffenheit reizen. Die Gegenstände deren Gegenwart im Geiste, wenn man sie nicht näher kennt, gar nichts merkliches in uns wirken und weder zum Denken, noch zum Empfinden reizen, kommen hier als völlig gleichgültige Dinge gar nicht in Betrachtung.

Nach diesen vorläufigen Erläuterungen kommen wir nun näher zum eigentlichen Inhalt dieses Artikels. Die schönen Künste haben nicht den Zweck uns zu unterrichten, sondern uns zu rühren oder in Empfindung zu setzen. Auch da, wo sie etwa in besonderen Fällen einen unterrichtenden Stoff bearbeiten, tun sie es so, dass der Unterricht mit Empfindung verbunden ist. Daraus folgt also, dass die Gegenstände, die sie uns vorhalten, sinnliche Gegenstände sein müssen und dass der Zweck desto sicherer erreicht werde, je mehr Sinnlichkeit sie haben.

 Die zeichnenden Künste und die Musik können keinen anderen, als sinnlichen Stoff bearbeiten; man braucht also den Künstlern in diesen Gattungen nicht wie den Rednern und Dichtern zu sagen, sie sollen suchen sinnlich zu sein. Aber dieses müssen sie wissen, wie ein an sich nur schlechtweg sinnlicher Gegenstand, vorzüglich oder stark sinnlich werde. Die redenden Künste können sowohl sinnlichen als erkennlichen Stoff bearbeiten. Da ist also nötig zu wissen, wie dem nicht sinnlichen Stoffe Sinnlichkeit zu geben und wie sie den schwach sinnlichen noch mehr sinnlich zu machen haben.

 Wir müssen aber, ehe wir uns hierüber einlassen, notwendig wiederholen, dass man auch sinnlich denken oder erkennen und denkend empfinden könne. Jenes geschieht, wenn man beim Denken, bei bloß klaren Begriffen stehen bleibt; dieses, wenn man von bloß sinnlichen Vorstellungen so schwache Empfindungen bekommt, dass man nicht gereizt wird ihnen nachzuhängen, sondern sich der Betrachtung der Gegenstände, wodurch sie verursacht worden, überlässt. Jenes sinnliche Denken müssen wir gegen das spekulative Denken und dieses denkende Empfinden gegen das volle Gefühl der Empfindung halten, um die Verschiedenheit der Wirkung die jedes auf uns hat, genau zu beobachten.

 Sinnliche Begriffe werden ohne großes Nachdenken erlangt. Es wird dazu bloß so viel Aufmerksamkeit erfordert, dass man Dinge, die wirklich verschieden sind oder verschieden in die Sinne fallen, von einander unterscheide, wozu der geringste Grad des Nachdenkens hinlänglich ist. Aber um deutliche und entwickelte Begriffe zu erlangen, muss man oft die Vorstellungskraft ernstlich, anhaltend und auf mancherlei Weise anstrengen. Man muss nicht nur alles Einzelne, was erfordert wird, um die Sache dazu zu machen, was sie ist, genau fassen, sondern dieses Einzelne der Ordnung nach wieder zusammensetzen oder vom Zusammensetzen wieder entwickeln können. Die sinnlichen Begriffe, deren man gewohnt ist, stellt man sich ohne Mühe in einem einzigen unteilbaren Punkt der Zeit vor; deutliche Begriffe kann man nicht anders als allmählich bekommen, in dem man das Einzelne darin Stückweis betrachtet und gleichsam aufzählt.

Hieraus entsteht nun ein merkwürdiger Unterschied zwischen sinnlichem und wissenschaftlichem Denken, in Absicht auf die Wirkung.

 Weil wir den sinnlichen Begriff schnell und ohne Anstrengung der Aufmerksamkeit fassen, so können wir uns sogleich dem Eindruck, den er auf uns macht, überlassen und ihn ganz empfinden. Der Begriff, den wir deutlich zu fassen bemühet sind, wirkt gar nichts in uns als ein bloßes Bestreben, das Einzelne darin zu sehen oder zu fassen. Dort empfinden wir alles Einzelne auf einmal, ohne es zu erkennen oder zu unterscheiden; hier aber sehen oder empfinden wir nur einen einzigen, einfachen Teil auf einmal und sind so stark beschäftigt, diesen zu fassen, dass wir das Ganze darüber aus dem Gesichte verlieren und keine Wirkung davon in uns spüren. Derjenige, der einem Taschenspieler oder Seiltänzer zusieht und alle Augenblick etwas unbegreifliches, widersprechend scheinendes oder gefährliches wahrnimmt, genießt die Eindrücke davon, er wird in beständiger Bewunderung, Erwartung und Furcht unterhalten: wer aber dabei sein Nachdenken anstrengt, um zu entdecken, wie alles zugeht, wie das unmöglich scheinende möglich ist, u.s.w. fühlt nichts von jenen Eindrücken; seine ganze Aufmerksamkeit ist auf das Erkennen der Sache gerichtet; er sieht nicht ein ganzes Kunststück auf einmal, sondern immer nur eine sehr kleine Bewegung und gleichsam nur einen Punkt. Man sehe auch zu leichterm Begriff dieser Sache die Anmerkung nach, die wir an einem anderen Orte1 hierüber gemacht haben.

 Und nun begreift man leichte, warum den redenden Künsten dieses als eine Grundmaxime vorgeschrieben wird, sie sollen überall sinnlich sprechen. Denn da ihr Zweck ist, stark und lebhaft zu rühren, dieses aber durch Entwicklung der Begriffe nicht geschehen kann; weil dabei alle Aufmerksamkeit nur auf das Erkennen der Sachen gerichtet ist; so müssen sie sich dessen völlig enthalten. Je sinnlicher der Redner oder Dichter spricht, je schneller wird er gefasst und je mehr Wirkung tut das, was er sagt. Dieses kann als eine Grundlage dessen, was wir hier noch zum Behuf des Künstlers zu sagen haben, hinlänglich sein.

 Wie das sinnliche Denken vor dem spekulativen einen großen Vorzug hat, wenn es auf praktische Kenntnis und auf ein Wissen, das auf Handeln einfließen soll, ankommt; so ist auch ein denkendes Empfinden, in manchem Falle dem gedankenlosen Gefühl vorzuziehen. Dieses Gefühl wirkt weiter nichts als die damit unmittelbar verbundene Lust oder Unlust und lässt, nachdem diese vorbei sind, weiter keine Spur in der Seele. Hingegen sind die Empfindungen, die zugleich mit klaren Vorstellungen ihrer Ursachen und Wirkungen verbunden sind, von großer Wichtigkeit. Sie sind es, die uns Kenntnis des sittlichen Guten und Bösen geben, Neigung zu jenem und Scheuh für dieses einpflanzen.

 Jenes gedankenlose Gefühl liegt bloß in der thierischen Natur, beziehet sich nur auf körperliche Bedürfnisse und ist deswegen kein Gegenstand der schönen Künste. Für die Erhaltung, Vervollkommnung und Fortpflanzung der animalischen Natur, ist ohne unser Nachdenken gesorgt; aber die allmähliche Erhebung des sittlichen Menschen, die Ausbreitung und Fortpflanzung des höheren sittlichen Lebens, ist der rühmlichen Bemühung edlerer Seelen überlassen. Diese machen die Seele für das sittliche Gute empfindsam, wie die Natur dem Körper für das physische Gute ein Gefühl gegeben hat. Und darin besteht der höchste und edelste Zweck der schönen Künste. Sie reizen die Empfindung zwar vermittelst der äußern Sinnen, aber nicht durch bloß sinnliche Gegenstände. Sie legen der Vorstellungskraft Gegenstände der klaren Erkenntnis vor und in diese legen sie den Reiz zu angenehmen und widrigen Empfindungen, damit der nicht bloß thierische, sondern vernünftige Mensch das Gute und Böse kennen, jenes suchen und dieses vermeiden lerne.

 Dieses ist nun alles, was der Künstler von der Theorie des Sinnlichen zu wissen nötig hat. Nun kommen wir auf die Anwendung desselben.

Hier würde nun zuerst anzumerken sein, mit welcher Sorgfalt der Künstler sich des Sinnlichen bedienen müsse, um das Angenehme und Unangenehme, womit es allgemein begleitet ist, nicht am unrechten Ort anzubringen; davon aber ist bereits an so viel Stellen dieses Werks und so hinlänglich gesprochen worden, dass wir diesen Punkt hier übergehen können. Es bleibt uns also nur noch übrig zu zeigen: 1. Wie in redenden Künsten dem bloß Erkennlichen das Kleid der Sinnlichkeit anzuziehen sei; und 2. wie sowohl diese als alle andere schöne Künste, dem, was nur schwach sinnlich ist, mehr Sinnlichkeit geben können.

  1. Die redenden Künste sind nicht bestimmt neue Wahrheiten zu erforschen; dies ist das Amt der Philosophie: aber jede nützliche Wahrheit faßlich und mit eindringender Kraft begleitet vorzutragen und weiter auszubreiten als die Philosophie es vermag, dieses ist eine von ihren Verrichtungen. Dazu aber müssen sie notwendig einen sinnlichen Ausdruck brauchen. Er besteht darin, dass für jeden nicht sinnlichen Hauptbegriff ein Wort gewählt werde, das einen sehr klaren und leichtfaßlichen Begriff erweckt, vermittelst dessen durch irgend einen leichten Tropus, jener schwerere Begriff sehr klar und faßlich werde. Ein solcher Ausdruck wäre es, wenn statt des philosophischen Wortes Vorsehung, wo dieses nicht schon unmittelbar in der popularen Sprache einen klaren Begriff erweckt, der Ausdruck väterliche Regierung Gottes gebraucht würde; ingleichen Sehen anstatt Erkennen; fühlen, anstatt überzeugt sein u. d. gl. Hierher gehören alle Metaphern, Bilder, Gleichnisse, Vergleichungen; kurz alle Arten des Ausdrucks, wodurch das anschauende Erkennen, befördert wird. Es ist aber beim Gebrauche dieser sinnlichen Sprache höchst nötig, dass man beständige Rücksicht auf ihren Zweck habe und diesem zufolge das Bekannte und Leichtfühlbare, dem Unbekannteren und schwerer Fühlbaren vorziehe. Denn nicht jede durch die äußern Sinne oder durch unmittelbar inneres Empfinden erweckte Vorstellung ist klar. Die zirkelrunde Figur fasst jedes Auge weit leichter als die parabolische oder hyperbolische; sie sind alle gleich sinnlich, aber nicht gleich klar. Vom angenehmen und widrigen Geruch hat jedermannn klare Vorstellungen, aber in beiden Arten werden sie weit weniger klar, wenn man das Besondere oder specivische davon fassen soll. Wenn man also die Wörter Rosengeruch und Liliengeruch nicht bloß zum allgemeinen Ausdruck der Lieblichkeit der Empfindung, sondern zur nähern Bestimmung der Art der Lieblichkeit brauchen wollte, würden sie wenig nützen.

 

Incisæ servant a te mea nomina sagi; Et legor Oenone falce notata tua.2

Sehr vermehrt es die Sinnlichkeit, wenn das Allgemeine besonders gesagt wird. Es ist schon sinnlich, wenn man sagt: ich wünsche nicht im Überflus zu leben, sondern begnüge mich am Notdürftigen; aber sehr viel sinnlicher ist es, wie Horaz es ausdrückt:

   –– Dives et aureis Mercator exsiccet culullis Vina, syra reparata merce.

–– –– –– ––

–– Me pascant Olivæ Me cichorea levesque malvæ.3

Ein besonderes Mittel die Sinnlichkeit zu verstärken ist auch dieses, wenn der Künstler, in dem er einen der äußern Sinne beschäftigt, plötzlich auch einen anderen zu rühren weiß. Dieses tut Homer sehr oft, in dem er mitten in der Zeichnung seiner Gemälde, da sich unsere Einbildungskraft bloß mit Sehen beschäftigt, auch das Gehör durch das Rasseln der Waffen oder andere Töne, rührt. So ist folgendes aus dem Horaz höchst sinnlich:

   –– Spirat adhuc amor Vivuntque commissi calores Äoliæ fidibus puellæ.4

Hierher gehören auch die Kunstgriffe der Maler, da sie neben dem Gesicht, auch andere Sinne rühren, wie z.B. Poußin in seinem Gemälde von der Pest, wo auch der Geruch stark gerührt wird oder wenn ein Maler in Landschaften das Kühle der Schatten, das Rauschen eines Wasserfalls, die höchste Stille einer einsamen Gegend oder im entgegengesetzten Falle, die von dem Gesang der Vögel erfüllte Luft auszudrücken weiß, von dem allen aus den Werken der besten Maler Beispiele anzuführen wären.

 Überhaupt wird die Sinnlichkeit durch die vollkommene Erreichung der Natur bei jeder Vorstellung ungemein vermehrt. Das Gemälde ist nie sinnlicher als wann man dabei vergisst, dass man einen gemalten Gegenstand sieht und die Natur selbst zu sehen glaubt; wenn man im Portrait an dem Bilde Leben und Atem zu empfinden glaubt; wenn man in epischen und dramatischen Reden den Dichter so völlig vergisst, dass man die Personen selbst zu hören glaubt.

 

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1 S. Lehrende Rede. S. 685 .

2 Heroides. V. 20.

3 Od. I. 31.

4 Od. IV. 9.

  


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