Spitzfindigkeit

Spizfindigkeit. (Schöne Künste) Eine unzeitige Scharfsinnigkeit, die die Begriffe über die Notdurft und über die Natur der Sachen entwickelt und subtile, schwer zu entdeckende Kleinigkeiten bemerkt, die kein Mensch wissen will oder wenn er sie bemerkt, verachtet; weil sie auf nichts gründliches führen. Es fällt mir eben ein Beispiel hiervon aus einer Tragödie des sonst so gründlichen und überall großen Sophokles ein. Folgende Stelle aus seinen Ajax scheint mir wenigstens als ein Beispiel hierher zu gehören. Tekmessa hatte bemerkt, dass Ajax sich von seiner Raserei etwas erholt hatte. Dieses veranlasst zwischen dem Chor und ihr folgende Unterredung.

 

Der Chor. Aber wenn er wieder zu sich selbst gekommen ist, so ist es gut für uns.

Tekm. Was würdest du, wenn du die Wahl hättest, wählen? Wolltest du lieber deine Freunde betrübt sehen und selbst vergnügt sein oder an ihrer Betrübnis Teil nehmen?

Chor. Das doppelte Übel scheint mir das Größere.

Tekm. Und dieses leiden wir jetzt, da uns selbst nichts fehlt.

Chor. Wie verstehest du das, ich begreife dich nicht.

Tekm. Da Ajax noch verrückt war, gefiel er sich selbst in dieser Krankheit und wir, denen nichts fehlte, litten für ihn. Jetzt aber da er zu sich selbst gekommen ist, wird er von einer bösen Traurigkeit hingerissen und wir leiden nicht weniger, als vorher.

 

 Die Spizfindigkeit ist ein Fehler den die Redner am meisten begehen; ein besonderes Muster derselben und auch der besten Art sie zu beantworten, hat uns Sextus Empiricus1 aufbehalten, in dem Proceß den ein Schüler des Redners Korax gegen seinen Lehrmeister angefangen und der sich dadurch endigte, dass beide Partien von dem Richtstuhl weggejagt wurden.

 Die Spizfindigkeit ist einer der schlimmsten Fehler des Geistes. Sie verleitet den Spizfindigen, sich überall mit Rauch und Nebel, anstatt wirklicher und brauchbarer Begriffe und Gedanken zu beschäftigen und sich gründlich zu dünken, wo er kaum die Oberfläche der Dinge berührt. Er hält sich überall an dem Schein der Dinge und dünket sich groß damit.

 Der spizfindige Witz drechselt und schleift so lang an einem witzigen Einfall, bis er ihm eine nicht mehr sichtbare Spize gegeben hat, die kein Mensch mehr fühlt und nur eine verworrene Phantasie noch zu fühlen glaubt. Aber nirgend ist diese Schwachheit oder Art von Narrheit gefährlicher und Menschen von gerader Art zu handeln, anstößiger als in praktischen Dingen, die unmittelbar auf Handlungen gehen. Denn da tut der Spizfindige nie, was die gerade gesunde Vernunft zu tun befiehlt; darum trifft er nie auf den Zweck, auf den er doch immer zu treffen sich einbildet. Es sind unserem Denken und Nachforschen gewisse Schranken gesetzt, die man nicht überschreiten kann, ohne sich ganz in Spizfindigkeiten zu verlieren. Wir müssen gar oft bei klaren Begriffen, die wir unmittelbar als einfache Vorstellungen empfinden, stehen bleiben, wenn es uns gleich dünkt als sollten wir darin noch etwas entwickeln müssen. Wer den unglücklichen Hang hat, da, wo sein Gefühl klar spricht, noch weiter nachzugrübeln, ob er auch recht fühle, der verfällt in Spizfindigkeiten. So sagt uns ein unmittelbares sehr klares Gefühl, dass wir dem der Not leidet, zu Hilfe kommen sollen und lässt keinen Zweifel übrig. Aber der Spizfindige findet da noch sehr vieles zu untersuchen und zu bedenken, und hilft entweder gar nicht oder auf eine so künstliche Weise, dass es eben so viel als Nichts ist.

 In Werken des Geschmacks sagt uns ein sehr klares Gefühl gar oft, dass etwas gut oder schlecht oder dass gerade so viel zum Zweck hinreichend sei. Aber der Spizfindige sucht noch scheinbare, nicht mehr im Gefühl, sondern in einer verstiegenen Phantasie liegende Gründe, das Gute besser, das Hinlängliche noch stärker zu machen oder das Schlechte zu verteidigen.

Wir würden hier aber auch selbst notwendig in Spizfindigkeit geraten; wenn wir unternehmen wollten, anzuzeigen, wo man sich mit den klaren Begriffen der gesunden Vernunft, mit dem bestimmten Gefühl des Geschmacks und der Empfindung begnügen soll, ohne die Gründe der Sachen weiter zu entwickeln und wo man ohne Gefahr die Untersuchung weiter treiben könne. Man muss auch hier die Schranken empfinden; weil sie sich nicht zeichnen lassen. Der einzige Rat den man denen, die noch Gefühl haben, geben kann, ist dieser, dass sie, wenn sie sich in Untersuchungen und in Zergliederung der Sachen vertieft haben, den Erfolg oder die Schlüsse, die sie herausgebracht, wieder gegen das, was sie vor der Untersuchung, durch bloß genaue Aufmerksamkeit auf ihr Gefühl, geurteilt haben, halten und bei dem geringsten Widerspruch den sie zwischen beiden entdecken, eher dem Gefühl als der subtilen Untersuchung trauen. Findet ihr, dass euch ein Kunstrichter etwas, das ihr bei guter Aufmerksamkeit auf alles dazu gehörige schlecht oder anstößig oder unschicklich gefunden habt, durch sehr künstliche Entwicklung als gut und schicklich angepreißt; so vergleicht das, was ihr von seinen Gründen klar fühlt, gegen das, was ihr vorher von der Sache gefühlt habet. Hat dieses noch mehr Klarheit als jenes, so setzt ein Misstrauen in das Urteil des Kunstrichters; es könnte gar wohl sein, dass er ein bloßer Sophist wäre.

 

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1 Adv. Mathem Lib. 11.

 


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