1. Das System einer diatonischen Oktave

 

1. Ohne Zweifel haben die Menschen lange gesungen, eh' es einem nachdenkenden Kopf einfiel eine Reihe bestimmter Töne für den Gesang festzusetzen. Die Geschichte sagt uns nichts Zuverlässiges von der Erfindung eines Tonsystems; aber da der menschliche Geist sich in allen Zeiten in dem allgemeinen Gange auf dem er seine Erfindungen macht, gleich bleibt, so haben wir hier nicht nötig uns in der Dunkelheit des höchsten Altertums um Nachrichten von dem Ursprung desselben umzusehen. Wir kennen noch genug halbwilde Völker, die ohne festgesetztes Tonsystem Lieder singen und es ist zu vermuten, dass die Griechen und andere Völker des Altertums, bei denen die Musik zu einer ordentlichen Kunst geworden, es eben so werden gemacht haben. Der natürliche Sänger wählt die Töne, wie die Empfindung sie ihm in die Kehle legt und weiß von keinem System, aus dem er sie zu wählen hätte. Wenn man einigen Reisebeschreibern glauben sollte; so müsste man auf die Vermutung fallen, dass unser heutiges diatonisches System der menschlichen Kehle natürlich und gleichsam angeboren wäre. Denn sie geben uns von verschiedenen Völkern, die bloße Naturalisten im Singen sind, Lieder nach unserem diatomischen System in Noten gesetzt. Aber man kann sich darauf wenig verlassen; und vermutlich würde ein heutiger Neger oder Irokese sein von einem Europäer diatonisch aufgesetztes Lied, wenn es ihm vorgesungen würde, eben so wenig erkennen als Cicero seine Reden von einem heutigen Schüler deklamiert, erkennen würde.

Es ist höchst wahrscheinlich, dass der Gebrauch der Instrumente den Einfall gewisse Töne festzusetzen erzeugt habe. Sowohl Pfeiffen, als besaytete Instrumente sind Erfindungen, auf die auch halbwilde Völker leicht fallen. Wollte nun der Erfinder eines solchen Instruments etwas singbares darauf herausbringen, so musste er notwendig ein System von Tönen darauf festsetzen. Weil das Instrument nicht so wie die Kehle jeden Ton angibt, den das Ohr des Spielers verlangt, sondern nur die festgesetzten, die seine Beschaffenheit allein hervorbringen kann.

Wenn wir also setzen, Mercurius oder wer der sonst sein mag, der zuerst den Einfall gehabt, zwischen die Hörner eines Stierschädels einige Saiten zu spannen und diese Lyre zur Begleitung seiner Lieder zu brauchen, sei nun in der Arbeit begriffen, diesen Saiten eine Stimmung zu geben, die sein Gehör befriedige: so entsteht die Frage, was er etwa für Gründe haben möchte, diese Saiten so und nicht anders zu stimmen; oder man kann fragen; wie wird dieser Erfinder wahrscheinlicher Weise seine Saiten stimmen? Da man natürlicher Weise voraussetzen kann, er habe schon lange vorher sich im Singen geübet; so wird man auch annehmen können, er werde die Töne, die ihm in seinen Liedern am meisten gefallen, auf das Instrument zu bringen suchen, nämlich die gefälligsten Konsonanzen. Es kann aber zu unserer Absicht hinreichend sein, wenn wir uns hier bloß an die alte Tradition der Griechen halten und die allgemeine Frage an diesem besonderen Fall untersuchen. Die Erfindung der Lyra wird dem Mercurius zugeschrieben; und man sagt, er habe sie mit vier Saiten bespannt, die so gestimmt gewesen, dass die tiefste gegen die höchste die Oktave, gegen die zweite die Quarte und gegen die dritte die Quint angegeben habe. Folglich hätte das erste System aus vier Tönen bestanden, die sich so gegen einander verhalten, wie in unserem System die Töne C, F, G, c.

So großes Misstrauen ich sonst in die Sagen der Griechen setze, so kommt mir diese doch wahrscheinlich vor. Ich glaube, dass in jedem Lande der Welt, wo die Menschen einiges Gefühl für Wohlklang haben, ein System, das nicht mehr als vier Saiten haben sollte, nach einigen Versuchen, gerade so würde gestimmt werden; weil diese Intervalle die sind, die man durch Probiren bei allmählicher Erhebung der Stimme am leichtesten entdecken und ins Gehör fassen kann. Es ist ganz natürlich, dass der Sänger, der seinem Instrument vier Töne geben will, mit seiner Stimme vielfältige Versuche machen werde, um die vier Töne zu entdecken, die ihm als die angenehmsten vorkommen. Nun weiß aber jedermannn, dass es nicht möglich ist, ein System von vier Saiten zu finden, die überhaupt mehr Harmonie geben und sich zum Einstimmen bei dem Gesang oder zur Begleitung besser schicken als gerade diese vier, die eine Oktave, zwei Quinten und zwei Quarten enthalten. Hierzu kommt aber noch, dass jedes dieser Intervalle, wenn man es durch Probiren der Stimme einmal getroffen hat, sich sehr leichte wiederholen und ins Gehör fassen lässt. Deswegen waren die angezeigten vier Töne am leichtesten zu entdecken und auf dem Instrument zu stimmen; und aus diesem Grunde halten wir die griechische Sage für so wahrscheinlich, dass wir alles fernere Nachforschen über die erste Beschaffenheit des einfachsten Tonsystems für überflüssig halten, da dieses der wahrscheinlichsten Erwartung hinlänglich genug tut.

Nun war freilich mit diesem ersten Tonsystem wenig auszurichten. Indessen soll doch die Lyra eine ziemliche Zeitlang, nur diese vier Töne gehabt haben. Wenn dies ist, so müssen wir vermuten, dass die Sänger nicht auf jeden Ton, den sie gesungen, auch eine Saite der Lyra werden angeschlagen, sondern es so gemacht haben, wie noch jetzt geschieht, da man auf einen Basston viel andere Töne in der Höhe singt. Also werden die Sänger ihren Gesang nach Gutdünken aus der Kehle herausgebracht und etwa bisweilen, wo sie glaubten, dass es sich am besten schicke, die eine oder andere Saite ihrer Lyra dazu angeschlagen haben. Dieses ist, nach unserem Vermuten, die älteste Weise zu singen und den Gesang mit einem Instrument zu begleiten.

Nun wurde dieses System von vier Saiten allmählich durch neue Töne vermehrt. Boetius sagt, Chorebus des Lydischen Königs Athis Sohn, habe die fünfte; Hyagnis die sechste, Terpander die siebente und Lychaon aus Samos die achte Saite hinzugetan. Andre schreiben die allmählichen Vermehrungen des Systems anderen zu; keiner aber sagt uns eigentlich, wie es vermehrt worden. Da wir es für überflüssig auch wohl gar für unmöglich halten, diesen höchst zweifelhaften Punkt der Geschichte der Kunst, aus Vergleichung der alten Nachrichten in ein volles Licht zu setzen, so begnügen wir uns bloß einige wahrscheinliche Mutmaßungen über den Ursprung des alten diatonischen Systems hier beizubringen.

 


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