Seneca

Seneca. Der Urheber oder, wenn man will, die Urheber der zehn Trauerspiele, dem einzigen Überrest von der lateinischen tragischen Schaubühne. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob der Philosoph Seneka oder ein anderer gleichen Namens oder ob jeder von beiden, einige dieser Trauerspiele verfertigt habe; wir betrachten hier die Werke und nicht den Verfasser.

 Wenn diese zehn Trauerspiele als Muster der römischen Tragödie anzusehen sind, so berechtigen sie uns zu urteilen, dass die Römer in dieser Kunst weit mehr als irgend in einer anderen, hinter den Griechen zurück geblieben sind. Denn kein Mensch von gesundem Geschmack wird sie, wie Scaliger, den griechischen Trauerspielen, die wir haben, vorziehen.

Lipsius hat richtiger davon geurteilt, wiewohl er die Medea und die Thebais noch zu sehr erhoben hat.

  Überhaupt herrscht in allem ein Ton, der sich besser zur Elegie als zum Trauerspiel schickt. Die Empfindungen sind darin nicht nur weit über die Natur getrieben, sondern werden auf alle Seiten gewendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe, den Reichtum des Ausdrucks zu zeigen. Denn in den Reden der Personen merkt man gar zu offenbar, dass nicht die Personen selbst, sondern der Dichter redet, der bei kaltem Blute höchst witzig ist und dessen Einbildungskraft keinem Gefühl Raum lässt; immer fürchtet, nicht genug gesagt zu haben. Seine Personen bleiben bei dem heftigsten Schmerz schwatzhaft und witzig; sie wiegen alle Worte ab, machen Gemälde, die sie auf das Zierlichste ausbilden, gerade als wenn sie auf die Schaubühne getreten wären, um ihre Beredsamkeit zu zeigen.

  Die Charaktere sind fast alle übertrieben. Herkules ist nicht der tapferste aller Menschen, sondern ein absurder Prahler, der es mit allen Göttern aufnehmen will. Nicht nur bei seiner angehenden Raserei sagt er ungeheure Prahlereien,

   –– arma nisi dantur mihi Aut omne Pindi Thracis exscindam nemus Bacchique lucos et Cithæronis juga Mecumque cremabo; tota cum domibus suis Dominisque tecta, cum Deis templa omnibus Thebana supra corpus excipiam meum Atque urbe versa condar u.s.w.

Sein Atreus ist auf die ungeheureste Art gottlos; dem gar kein Verbrechen groß genug ist. Er bietet allen seinen Witz auf, um etwas so gottloses zu tun als noch kein Mensch getan hat.

Nullum relinquam sacinus; et nullum est satis.

–– –– –– –– –– –– –– –– Fiat nesas Quod Dii timetis.2

und nachdem er die ungeheureste Tat, auf die ungeheureste Art begangen hat, kommt er mit dieser unsinnigen Prahlerei wieder hervor:

Äqualis astris gradior et cunctos super Altum superbo vertice attingens polum. Nunc decora regni teneo, nunc solium patris. Dimitto superos; summa votorum attigi. Bene est; abunde est; jam sat est etiam mihi.3

Man sieht zugleich aus diesen letzten Versen, einen fast in allen Szenen gewöhnlichen Fehler, dass die Personen in diesen Trauerspielen in dem heftigsten Affekt einen spielenden Witz haben. Dieser frostige Witz ist in beständigen Widerspruch mit den angeblichen Gesinnungen und dieser so gar offenbar, dass man dächte, der einfältigste Zuschauer hätte dieses merken und die handelnde Personen oder vielmehr den Dichter auszischen sollen. Eine einzige Probe kann genug hiervon sein. In der Thebais sagt Gedipus zur Antigone die ihn führt, sie soll ihn verlassen, er wolle sich selbst ums Leben bringen; die Tochter will aber mit ihm sterben und erbietet sich ihm Mittel an die Hand zu geben, beider Tod zu bewirken. Sie sagt sehr poetisch

Heic alta rupes arduo surgit jugo, Spectatque longa spatia subjecti maris Vis hanc petamus. Nudus heic pendet silex; Heie scissa tellus saucibus raptis hiat.

Vis hanc petamus? Heic rapax torrens cadit –– –– ––

In hunc ruamus?4

Wär es sein Ernst sich das Leben zu nehmen, so konnte er also wählen. Aber seine Antwort zeigt deutlich, dass er gar keine Lust dazu hat. Er wundert sich eine so großmütige Tochter zu haben; und nachdem ihm drei oder vier Mittel seiner Not ein Ende zu machen angeboten worden, fordert er wieder aufs neu mit einem sehr unnützen Wortgepränge, was er doch nicht angenommen hat

–– si sida es comes Ensem parenti trade.

–– Flammas –– et vastum aggerem Compone. In altos ipse me immittam rogos. –– –– –– –– Ubi sævum est mare Duc, ubi sit altis prorutum saxis jugum Ubi torta rapidus ducat Ismenus vada: Duc ubi feræ sint, ubi fretum, ubi præ ceps locus.

So handelt und redet in diesen Trauerspielen, die Verzweiflung und so widersprechen fast alle Reden den Gesinnungen, die den Personen angedichtet werden. Bei dem allen sind hier und da große Schönheiten, die aber nicht selten unrecht angebracht sind.

Meisterhaft gezeichnete Gemälde, die sich aber selten weder zu den Personen, noch zu den Umständen schicken. Im einzeln findet man starke auch so gar vortrefliche Gedanken und diese meisterhaft gesagt. Die Moral der Stoiker ist an verschiedenen Orten vortreflich angebracht. Die Denksprüche fahren oft wie Donnerstrahlen durch die Seele, wiewohl auch dagegen oft kleine, halbwahre, auch wohl kindische Sprüchelchen vorkommen. Hätte der Verfasser sich näher bei der Natur gehalten, hätte er allen überflüssigen Schmuck weggelassen, so wäre er einer der ersten tragischen Dichter worden.

 Den Dichtern, welche die Kunst bereits nach guten Grundsätzen studiert haben, kann man das Lesen dieser Trauerspiele empfehlen, damit sie von den häufigen Fehlern gerührt, sie vermeiden lernen und in dem wenigen Guten, das darin ist, die Stärke des Ausdrucks nachzuahmen suchen.

 

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1 Hercules furens vs. 927 f. f.

2 Thyestes v. 256.

3 vs 885. f. f.

4 Thebais vs. 67. f. f.

 


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