Voluntarismus

 

Hauptvertreter des neueren deutschen (»logistischen«) Voluntarismus ist WUNDT. Der empirisch - psychologische Voluntarismus ist von dem metaphysischen Voluntarismus wohl zu unterscheiden.

Ersterer heißt nur a potiori »Voluntarismus«. Während der metaphysische Voluntarismus das Wesen der Seele nur in den Willen verlegt, tritt der empirische Voluntarismus »bloß für die Gleichberechtigung des Willens und der mit ihm verbundenen Vorgänge (Gefühle, Triebe) mit den Vorstellungen« ein (Log. II2, 2, 152, 164 ff.). »Freilich aber wird mit der Wahl dieser repräsentativen Bezeichnung auch angedeutet, daß jetz anderen Inhalte immer zugleich Bestandteile eines vollständigen Willensvorganges sind« (L c. S. 167). Die voluntaristische Psychologie vertritt die »Aktualitätstheorie« (s. d.). Die Willensvorgänge haben »typische, für die Auffassung aller seelischen Erlebnisse maßgebende Bedeutung«. »Die voluntaristische Psychologie behauptet also keineswegs, daß das Wollen die einzige real existierende Form da psychischen Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, daß es mit den ihm eng verbundenen Gefühlen und Affekten einen ebenso unveräußerlichen Bestandteil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und daß nach Analogie des Willensvorganges alle anderen psychischen Prozesse aufzufassen seien: als ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht als eine Summe beharrender Objekte« (Gr. d. Psychol.5, S. 17 f.). Das Wollen (s. d.) ist nichts Einfaches, Unbewußtes u. dgl., sondern ein »zusammengesetztes Geschehen« (l. c. S. 22). Empirisch kommt ein »reiner« Wille nicht vor (Philos. Stud. XII, 63. vgl. Wille). Erst wenn wir, metaphysisch, die Tätigkeit des Ich (s. d.) isoliert von den sie hemmenden Objekten denken, ergibt sich, als letzte Bedingung der psychologischen Erfahrung, als »psychologische Idee«, der »reine Wille«, die »transzendentale Apperzeption« (Syst. d. Philos.2, S. 278 ff.). Die Einzelwillen bilden aber die Glieder höherer Einheiten, stehen unter einem »Gesamtwillen« (l. c. S. 392 ff.). Die »ontologischen Ideen« ergeben, »daß das eigenste Sein des einzelnen Subjekts das Wollen ist, und daß die Vorstellung erst aus der Verbindung der wollenden Subjekte oder aus den Konflikt der verschiedenen Willenseinheiten ihren Ursprung nimmt, worauf sie dann zugleich das Mittel wird, das höhere Willenseinheiten entstehen läßt« (l. c. S. 403 ff.. Philos. Stud. XII, 61 f.). Die Realität bedeutet eine »unendliche Totalität individueller Willenseinheiten«, deren Wechselwirkung das Entwicklungsprinzip des Willens selbst ist. Die Welt ist eine Stufenfolge von (vorstellenden) Willenseinheiten, »die Gesamtheit der Willenstätigkeiten, die durch ihre Wechselbestimmung, die vorstellende Tätigkeit, in eine Entwicklungsreihe von Willenseinheiten verschiedenen Umfangs sich ordnen« (l. c. S. 407 ff.). Da die Substanz (s. d.) ein Begriff ist, der erst aus der denkenden Verarbeitung der Vorstellungsobjekte entspringt, so sind die Willenseinheiten »nicht tätige Substanzen, sondern substanzerzeugende Tätigkeiten« (l. c. S. 419 ff.). Der Wille ist nicht das Intelligenzlose, sondern die Intelligenz selbst (Log. I2, 555). Gott (s. d.) ist Weltwille, die Weltentwicklung Entfaltung des göttlichen Willens (Syst. d. Philos.2, S. 433 f.). Als ein System von Willenseinheiten betrachtet die Welt MARTINEAU. Den Willen betrachtet als Entwicklungsfaktor GIDDINGS. Die Bedeutung des Willens für das Denken betonen HODGSON, S. LAURIE (Met.2, 1889), W. JAMES u. a. - Nach HÖFFDING ist der Bewußtseinsbestand einer Tätigkeit des Willens zu verdanken (Psychol.2, S. 431). Der Wille (s. d) ist der vollste Ausdruck des Bewußtseinslebens (l. c. S. 130), die »fundamentale Form« desselben (ib.). »Die Entwicklung des bewußten Individuums geht vom Willen (in weiterem Sinne) zum Willen (in engerem Sinne)« (l. c. S. 130). Die Aktivität ist eine ebenso ursprüngliche Seite des Bewußtseinslebens wie die Elemente desselben (Philos. Probl. S. 31). - Ähnlich wie WUNDT lehren psychologisch DE SAGO, G. VILLA u. a. (s. Wille). - Nach RAVAISSON ist das Denken Tätigkeit des Willens (Philos. in Frankr.). RENOUVIER erklärt: »L'esprit a son activité propre.« Es besteht eine Wahl der Ideen (Nouv. Monadol. p. 95). Das Denken lenkt den Lauf der Vorstellungen und Assoziationen (l. c. p. 97). RIBOT erblickt in den Strebungen (»tendances, appetits«) die Grundlagen der Gefühle (Psychol. d. sentim. p. IX ff.). PAULHAN schreibt allen Wesen wenigstens »un minimum d'esprit, une tendance vague« zu (Physiol. de l'espr. p. 180). Die Welt ist »un ensemble de faits de conscience et de tendance plus ou moins obscurs« (l. c. p. 182). Voluntarist ist entschieden LACHELIER (Psychol. et Mét., Revue philos. 1885, T. XIX). Alles Sein ist Wille, Wille zum Leben. das Ich ist Wille. Den Voluntarismus verbindet mit der Ideenlehre FOUILLÉE. Er betont, der Wille sei »le fond de toute existence«, die gemeinsame Grundlage von Bewegung und Empfindung (Scienc. soc. p. 125). Alles ist lebendig, beseelt (l. c. p. 127). Die psychischen Prozesse sind an sich »appétitions«, »actions et réactions«, wenn aber reflektiert, so sind sie Ideen (Psychol. d. id.-forc. I, p. VII ff.). Sie sind alle »un vouloir« (l. c. p. X). daher ist die Psychologie »l'étude de la volonté« (l. c. p. XXI). In jedem Bewußtseinszustande ist »une volonté contrariée ou favorisée« (l. c. p. XXXV). Das Streben ist »le facteur principal de l'évolution en nous« (l. c. p. XXXVII). Das Streben »précède le sentiment« (l. c. I, p. 111 ff.. so schon BAIN). Der Wille ist »partout en nous« (l. c. p. 235), ist ein »fait original« (l. c. p. 247). Die Bewegung ist eine Manifestation des Strebens (l. c. p. 246). Der Fundamentalwille (»vouloir fondamental«) ist das An-sich des Dinges, »exprime ce que l'être est en lui-même« (l. c. p. 255). In jedem Bewußtseinszustand ist Bewußtsein »de l'opération, de l'impulsion volontaire, attentive et motrice« (l. c. p. 303 f.). Die intellektuellen Prozesse beruhen auf dem Willen (l. c. p. 230), sind »une combinaison ou un développement de la sensation, de l'émotion et de la volonté« (l. c. p. 307). Der Geist kann »rejeter ce que l'automatisme lui offre« (l. c. p. 315). Jeder Bewußtseinszustand ist »idée en tant qu'enveloppant un discernement quelconcque, et il est force, en tant qu'enveloppant une preference quelconque« (l. c. p. X). So besteht das geistige Leben in »idées-forces«, Kraftideen, welche die Entwicklung bestimmen. »Les principes directeurs de la conneissance sont des idées-forces« (l. c. II, 131). »Les ›formes‹ de notre pensée ne sont que des fonctions de notre volonté primordiale et normale« (l. c. II, 210. vgl. L'evolut. des idees-forces). - Vgl. Wille, Denken, Streben, Trieb, Psychologie, Objekt, Ich, Subjekt, Selbstbewußtsein, Apperzeptionspsychologie, Gott, Seele, Willensfreiheit, Aktualitätstheorie, Aktivität.

 


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