Voluntarismus

 

Voluntarismus (Volitionismus, Ethelismus): Willens - Standpunkt in Psychologie und Methaphysik, d.h. diejenige Richtung, nach welcher der Wille (s. d.) der Grund- oder Hauptfaktor des psychischen Geschehens bezw. des Seins überhaupt ist. Je nachdem der Wille als einfaches, unbewußtes, »blindes« Tun aufgefaßt wird, auf das alle anderen Formen des (psychischen) Geschehens zurückgeführt werden sollen, oder aber als eine einheitliche Synthese von Empfindung (Vorstellung), Gefühl, Streben, so daß die Willenshandlung eben die vollständige, die typische Form jeder (psychischen) Tätigkeit darstellt, ergeben sich verschiedene extreme (»alogistische«, »antilogistische«) und gemäßigte, mit einem gewissen »Intellektualismus« vereinbare, (»logistische«) Formen des Voluntarismus bezw. der voluntaristischen Psychologie. Allen Formen der voluntaristischen Metaphysik ist es gemein, das »An-sich« (s. d.) der Dinge als Wille, Trieb, Streben u. dgl., als innerlich-aktives (reaktives) Geschehen und Sein aufzufassen. Der metaphysische Voluntarismus kann monistisch (s. d.) sein (wenn er als Wirklichkeit einen einheitlichen Weltwillen annimmt, z.B. SCHOPENHAUER), oder pluralistisch (s. d.) (wenn er eine Vielheit von Willenseinheiten setzt, z.B. R. HAMERLING). Den Ausdruck »voluntaristisch« gebraucht zuerst F. TÖNNIES (Zur Entwicklungsgesch. Spinozas, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 1883). PAULSEN hat den Ausdruck zur Geltung gebracht (Einl. in d. Philos. 1892, S. 116 ff.). Voluntaristische Ansätze finden sich bei verschiedener älteren Philosophen. So erklärt AUGUSTINUS, in allen seelischen Vermögen sei Wille enthalten, ja sie seien alle nichts als Wille: »Voluntaß est quippe in omnibus, immo omnes nihil aliud quom voluntates sunt« (De civ. Dei XIV, 6). Der Wille ist der Kern des Menschen (l. c. XIX, 6). SCOTUS ERIUGENA bemerkt einmal: »Tota animae natura voluntas est« (De praed. 8, 2). Daß in allen Seelenvermögen Streben, Wille enthalten ist, betont ALFARÂBI. - Den Primat des Willens betont entschieden DUNS SCOTUS. Der Wille beherrscht alle übrigen Seelenkräfte. »Voluntas est motor in toto regno animae, et omnia obediunt sibi« (In l. sent. II, d. 42, 4). »Voluntas imperans intellectui est causa superior respectu actu eius« (l. c. IV, d. 49, 4). freilich kann der Wille nicht wollen »nisi praecedente cogitatione in intellectu« (l. c. II, d. 42, 4. s. Wille). Der göttliche Wille ist die »prima causa« alles Seins (s. Willensfreiheit).

Nach J. BÖHME ist Gott »ein begehrender Wille der Ewigkeit. der gehet in sich selber ein und suchet den Abgrund in sich selber« (Vierzig Fragen von der Seele 1, 201). - Nach HOLLMANN ist die aktive Kraft der Seele der Wille (Eth. § 7 f.). Nach CRUSIUS ist der Wille »die herrschende Kraft in der Welt« (Vernunftwahrh. § 454), eine Grundkraft der Seele. Gottes Wille ist Gesetz für die vernünftigen Wesen. Nach SWEDENBORG ist der menschliche Geist ein Trieb.

Nach KANT ist der Wille (s. d.) das »eigentliche Selbst« des Menschen (Grundleg. zur Met. d. Sitt. 3. Abschn., S. 99). So noch nach J. G. FICHTE (s. Ich), der in der (Willens-)Tat die Grundlage alles Seins (s. d.) erblickt. - JACOBI erklärt: »Über dem Willen ist nichts. in ihm ist das Leben ursprünglich« (WW. VI, 150). Der menschliche Verstand wird durch den Willen entwickelt (l. c. IV, 248 f.). Der Trieb bildet das Wesen des Dinges (l. c. IV 17 ff.). Nach BOUTERWEK ist ohne Trieb keine Wahrnehmung, ohne Willen kein Erkennen möglich (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 80). Den Einfluß des Willens auf den Vorstellungsverlauf (im »oberen Gedankenlauf«) betonen FRIES (Anthropol.) und CALKER (Denklehre, S. 265). M. DE BIRAN betrachtet als Grundkraft im Erkennen den Willen (s. d.), so auch ROYER-COLLARD: »Penser, c'est vouloir« (vgl. Adam, Philos. en France p. 196). Nach BENEKE liegen allen geistigen Prozessen »Strebungen« (s. d.) zugrunde. - SCHELLING erklärt: »Wille ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung« (WW. I 7, 350, 369). Das unbegrenzte Sein in Gott ist »das durch sein bloßes Wollen Gesetzte«. Es ist dieser Wille »ein immanenter, ein nur sich selbst bewegender Wille«. Das »blind Seiende« ist Wille (WW. I 10, 277 f.). Alle Bewegungskraft ist ursprünglich Wille, in der Natur ein blinder Wille. Den (alogistischen) Voluntarismus als metaphysisches System begründet SCHOPENHAUER. Das Ding an sich (s. d.) ist Wille (s. d.). In allen tierischen Wesen zunächst ist der Wille »das Primäre und Substantiale« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 19), als (an sich) blinder »Wille zum Leben«, d.h. zum individuellen Dasein. »Blind« ist er ursprünglich, denn der Intellekt ist erst produkt des Willens auf einer späteren Stufe des Daseins, er ist nur sekundärer Art. »Der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Organismus das Primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens. der Wille ist metaphysisch der Intellekt physisch: der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 19. Gegensatz zum HEGELschen Panlogismus, s. d.). Der Intellekt ist nur »Akzidens des Willens« (l. c. C. 30). Der Wille ist »Ursprung und Beherrscher« des Intellekts (l. c. C. 15). Als Erscheinung (s. d.), Objekt (s. d.) des Erkennens ist die Welt Vorstellung (s. d.), als Ding an sich ist sie raum- und zeitloser, grundloser, einheitlicher Wille. »Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt noch denkbar.« »Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr sein soll, als bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie außer der Vorstellung, also an sich und ihrem innigsten Wesen nach, das sei, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 10). Der Leib (s. d.) des Menschen ist an sich Wille (l. c. § 18). Die anderen Objekte müssen, da sie als Vorstellungen dem Leibe gleichartig sind, an sich auch Wille sein (l. c. § 19). Der Wille ist »das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder blind wirkenden Naturkraft: er erscheint auch im überlegten Handeln des Menschen« (l. c. § 21). Jede Kraft (s. d.) ist Wille (l. c. § 22). Der Wille ist »grundlos«, er ist »frei von aller Vielheit«, ist einer (l. c. § 23 ff.), »unteilbar« (l. c. § 25. s. Idee, Individuation). Auf der untersten Stufe der Objektivation (s. d.) erscheint der Wille als »blinder Drang und erkenntnisloses Streben«, als »finstere treibende Kraft«. Im Tiere und Menschen schafft er sich eine Organisation, und mit dieser »steht nun mit einem Sehlage die Welt als Vorstellung da« (l. c. § 27). In aller Veränderung und Entwicklung bleibt der Wille selbst »unbewegt« (l. c. § 28). »Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen« gehört zum Wesen des Willens an sich, der ein »endloses Streben« ist. das gesamte Wollen hat keinen Zweck (l. c. § 29. vgl. Pessimismus). - Auf den Intellekt wirkt der Wille, indem er das Erkennen nötigt, »Vorstellungen, die demselben einmal gegenwärtig gewesen, zu wiederholen, überhaupt die Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes zu richten und eine beliebige Gedankenreihe hervorzurufen«. Doch fällt hierbei die Tätigkeit des Willens meist nicht ins deutliche Bewußtsein. Aber: »Jedes unserer Phantasie sich plötzlich darstellende Bild, auch jedes Urteil, das nicht auf seinen vorher gegenwärtig gewesenen Grund folgt, muß durch einen Willensakt hervorgerufen sein, der ein Motiv hat« (Vierf. Wurz. C. 7, § 44). Der Wille hat das Bewußtsein hervorgebracht, er gibt ihm Einheit, hält alle Vorstellungen zusammen als das »Beharrende und Unveränderliche im Bewußtsein« »Er also ist der wahre, letzte Einheitspunkt des Bewußtseins und das Band aller Funktionen desselben« (W. a. W. u. V. II. Bd., a. 15).

 


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