Nachahmung (mimêsis imitatio): Darstellung eines Objektes, einer Handlung durch ein möglichst ähnliches Eigen-Produkt. Der Nachahmungstrieb ist dem Menschen (auch Tieren) als Disposition angeboren. Die Vorstellung eines Vorganges löst durch das mit ihr verbundene Interesse (Gefühl) eine imitative Bewegung als Nachahmungsvorgang, wenigstens die Tendenz dazu, aus. Es gibt unwillkürliche und willkürliche Nachahmung. Letztere spielt, als Naturnachahmung, eine Rolle in der Kunst, die aber mehr als bloße Wiedergabe des Naturobjekts ist (Komposition, Idealisierung, Typisierung). Die Nachahmung hat auch hohe pädagogische und soziale Bedeutung.
PYTHAGORAS nennt die Dinge mimêseis der Zahlen (s. d.). PLATO nennt die Dinge mimêseis der Ideen (s. d.). Bei ihm und bei ARISTOTELES hat die Nachahmung auch ästhetische Bedeutung (s. Tragödie). Aristoteles nennt den Menschen das zôon mimêtikôtaton und sagt, das mimeisthai sei symphyton tois anthrôpois (Poët. 2). Als ästhetisches Prinzip stellt die Nachahmung auf CH. BATTEUX (Les beaux arts réduit à un même principe 1746). Nach SULZER hingegen (Theor. d. Schön.) hat die Kunst nur die schöne Natur nachzuahmen. ERASMUS DARWIN betont die größere Leichtigkeit, die aus der Nachahmung von Bewegungen entspringt (Zoonom. XV, sct. 7). Die Nachahmung hat individuelle und soziale Bedeutung (l.c. XXII, sct. 2). - Einen Nachahmungstrieb nimmt auch FRIES an (Psychol. Anthropol. I, § 52, 80). Nach BENEKE beruht der »Nachahmungstrieb« auf dem »Anschließen der unerfüllten Urvermögen an das stärkste gleichartige Gebilde«. »Die Nachahmung erfolgt, indem die freien Urvermögen, von den Vorstellungen (des bei andern Wahrgenommenen) aus, auf die Angelegenheiten für das entsprechende Tun übertragen werden« (Lehrb. d. Psychol.3. § 169; vgl. Psychol. Skizz. II, 629 ff.). Nach TEICHMÜLLER ist die Nachahmung eine durch das Gefühl vermittelte Reflexbewegung, »diejenige Bewegung, welche sich durch Reflexverknüpfung in Gleichung mit einer von seiten der äußern Welt in uns ausgelösten Bewegung zu setzen sucht« (Neue Grundleg. S. 103). Die Kunst ist »diejenige Nachahmung, welche die Gleichung mit dem geistigen Urbilde sucht« (ib.). Eine gründliche (genetische) Untersuchung der Nachahmung beim Individuum und bei der Gesellschaft findet sich bei BALDWIN (Mental Developm.). Die Anpassung der Organismen ist eine Erscheinung »organischer Imitation«, auf welcher die »organische Selection« (s. d.) beruht. WUNDT führt den Nachahmungstrieb darauf zurück, »daß eine aus psychischen Motiven hervorgegangene Handlung im allgemeinen in gleich gearteten Wesen einen ähnlichen Affekt erweckt, wie er in dem Handelnden selbst existiert. Damit ist aber auch eine ähnliche Wirkung nach außen bedingt« (Vorles. üb. d. Mensch.2, S. 434). G. TARDE erblickt in der Nachahmung, die, von den »inventeurs« ausgehend, die Massen ergreift und geistig formt, die soziale Grundtatsache (»phenomène social élémentaire«). »La société c'est l'imitation et l'imitation c'est une espèce de somnambulisme« (Les lois de l'imitation 1890; La logique soziale 1894). VIERKANDT unterscheidet unbewußte, unwillkürliche, bewußte, willkürliche Nachahmung (als Mittel, als Selbstzweck) (Zeitschr. f. Socialwissensch. II, 1899, S. 575 f.). Nach K. GROSS ist uns die Lust zum Nachahmen als ein besonderer Trieb eingepflanzt (Spiele d. Mensch. S. 360). Die Nachahmung hat den Zweck, »andere Instinkte, die zugunsten der Intelligenzentwicklung abgeschwächt sind oder doch für die Lebensaufgaben des Individuums nicht genügen, zu ergänzen« (l.c. S. 368). Das Nachahmen selbst ist kein Instinkt (l.c. S. 370). Innere Nachahmung ist der ästhetische Prozess, »wobei wir uns in das betrachtete Objekt hineinversetzen und dadurch in einen Zustand innerlichen Miterlebens geraten« (l.c. S. 416). Das ist die »ästhetische Einfühlung« (l.c. S. 417; vgl. JOUFFROY, Cours d'esthétique 1845, p. 256;). Vgl. Ästhetik, Spiel.