Völkerpsychologie ist jener Teil der Psychologie, der es mit den aus dem Wechselwirken der Bewußtseinseinheiten innerhalb einer sozialen Gemeinschaft entspringenden geistigen Gebilden (Sprache, Mythus, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht, Sitte, Sittlichkeit) zu tun hat, indem hier die Gesetzmäßigkeiten im Ursprung und in der Entwicklung dieser Gebilde auf komparativem Wege untersucht werden. Von dem in der allgemeinen Völkerpsychologie Gefundenen wird die Anwendung auf das geistige Leben der verschiedenen sozialen Gruppen, Volkseinheiten gemacht, so daß die Völkerpsychologie grundlegend für diese Seite der Interpretation der Geschichte und Soziologie (s. d.) wird.
Anfänge der Völkerpsychologie schon bei verschiedenen älteren Psychologen, Ethnologen und Soziologen (MONTESQUIEU, G. VICO u. a.). Auch bei H. RITTER, W. V. HUMBOLDT, HERBART, WAITZ, G. E. SCHULZE (Psych. Anthropol. S. 490 ff.) u. a. Die Idee einer Völkerpsychologie bei J. ST. MILL (Log. VI, 5). Die eigentlichen Begründer der Völkerpsychologie als selbständiger Wissenschaft sind LAZARUS (von ihm der Ausdruck) und STEINTHAL. Die Völkerpsychologie ist die »Wissenschaft vom Volksgeiste«, »von den Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens«. Ihre Aufgabe ist, »eine Erkenntnis des Volksgeistes zu erstreben..., oder diejenigen Gesetze zu entdecken, welche zur Anwendung kommen, wo immer viele als eine Einheit zusammen leben und wirken« (LAZARUS, Leb. d. Seele I2, 326 f.. vgl. Zeitschr. f. Völkerpsychol. I, 1860, S. 1 ff.. III, 1865, S. 1 ff.). - Nach WUNDT ist die Völkerpsychologie nicht eine Anwendung der Individualpsychologie auf soziale Gemeinschaften, sondern »das Gebiet psychologischer Untersuchungen, welches sich auf jene psychischen Vorgänge bezieht, die vermöge ihrer Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen an geistige Gemeinschaften gebunden sind« (Log. II2 2, 232. Völkerpsychol. I 1, S. 2). Sie ist ein Teil der vergleichenden oder generellen Psychologie (Grdz. d. physiol. Psychol. I5, 6. vgl. Gr. d. Psychol.5, S. 29). Sie hat jene psychischen Vorgänge zum Gegenstande, »die der allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte zugrunde liegen« (Völkerpsychol. I 1, S. 6). Sie ist eine »Lehre von der Volksseele« (l. c. S. 8. vgl. Philos. Stud. IV. vgl. Psychologie). Eine Völkerpsychologie gibt CATTANEO (La Psicologia delle menti associati. Scritti di filosof. 1892, I). Nach SIGWART ist die Trennung von Völker- und Individualpsychologie unhaltbar. »Alle Psychologie ist Individualpsychologie, weil sie nur von dem reden kann, was in dem Bewußtsein vorgeht und sich findet, und weil dieses Bewußtsein immer nur das eines Individuums von sich selbst sein kann, aber in den Regungen des individuellen Lebens müssen allerdings diejenigen Vorgänge besonders beachtet, die Gefühlsbestimmtheiten und Strebungen mit besonderer Sorgfalt aufgesucht werden, welche das Verhältnis von Mensch zu Mensch bestimmen, weil auf ihnen das geschichtliche Leben des Menschen ruht« (Log. II2, 192). Vgl. die Schriften von G. TARDE, BALDWIN (Social and ethical interpretations in mental development, 1897), AD. BASTIANS, Der Mensch in der Geschichte, 1860, u. a. - Vgl. Sprache, Mythus, Sitte, Sozialpsychologie.