Das Rathaus von Köpenick


Architekt. Wie, die ›Zeit‹ besteht noch? Aus einem Dutzend Ausschnitten, die mir neulich zugeschickt wurden, erfahre ich’s. Und aus diesen Ausschnitten erfahre ich zugleich, dass auch die ›Zeit‹ das Opfer des Köpenicker Gaunerstreiches geworden ist. Sie bringt in ihrer berühmten Sonntagsbeilage das Bild eines prunkvollen Gebäudes, das sie ihren Lesern als das Rathaus von Köpenick vorführt. »Das sich wohl die wenigsten Leute« — versichert die ›Zeit‹ — »als einen Prachtbau im gotischen Stil vorgestellt haben.« Die wenigsten Leute, also sämtliche Leser der ›Zeit‹. »Wir bringen eine Ansicht des Rathauses, dessen Entwurf von Prof. Hauberrisser stammt.« Das märkische Städtchen war aber vor der »Affaire« — sie ist für Deutschland beschämender als für Frankreich die eines andern Hauptmanns — noch nicht so weltberühmt, dass man ihm ohneweiters den Millionenbau zutrauen könnte, den die ›Zeit‹ für das Köpenicker Rathaus hält und der in Wahrheit das Münchener Rathaus ist. Wer näher zusieht, den grüßen — meint ein Leser — auf dem Bildchen der ›Zeit‹ vertraulich die lieben »Frauentürme« und zwischen ihnen sitzt lachend das Münchner Kindl und leert seinen Schoppen auf das Wohl der ›Zeit‹-Redakteure. Was nützt es, dass sie sich auf ein »technisches« Versehen ausreden, das echte Köpenicker Rathaus nachtragen nnd versichern, dass auch dieses sehr schön sei! Die ›Zeit‹ hatte sich nun einmal das Münchner Kindl als märkischen Bären aufbinden lassen und ließ das preußische Ereignis im Münchener Rathaus spielen. Es hat also eigentlich auch in einer Wiener Redaktion gespielt. So groß wie der Respekt der Köpenicker Ratsherren vor der Uniform, die ein Spaßvogel anzieht, ist der Respekt der Wiener Redakteure vor einer »Nachricht«, die ein Spaßvogel einsendet. Der Unterschied zwischen beiden ist bloß, dass der Bürgermeister Langerhans wenigstens das Rathaus von Köpenick von dem Münchener Rathaus unterscheiden kann, während Herr Isidor Singer jeden Inseratenagenten, der ihm einen Artikel über militärische Verhältnisse liefert, für einen General hält.

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

31. Oktober 1906.


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