Ein Musikkritiker


Mytholog. Im ›Neuen Wiener Journal‹ schreibt jetzt Herr Reinhardt, der Komponist des »Süßen Mädels«, Musikkritiken. Er schreibt: »Völlig kalt ließ die E-dur-Rhapsodie. Dohnanyi begnügte sich damit, sie ziemlich ausdruckslos herunterzuspielen.« Wahrscheinlich so ausdruckslos, dass Herr Reinhardt gar nicht wahrnahm, dass es die Es-dur-Rhapsodie sei, und den Druckfehler des Konzertprogramms getrost abschrieb. Herr Reinhardt schreibt Musikkritiken. Fachleute behaupten, dass dies ein großer Skandal sei. Möglich. Sicher aber ist, dass sich Herr Reinhardt durch einen einzigen Satz, den ich zitieren will, bekannter machen wird, als seine sämtlichen Kollegen. Er war am 30. Oktober in seinem Referat über das erste philharmonische Konzert zu lesen und lautet: »Was (in der Wiener Musiksaison) früher kommt, bedeutet ein unverhofftes Geschenk, das freilich in weitaus den meisten Fällen Danaë zu spenden pflegt.« Selbst in jenen Jahren, in denen man noch mit hölzernen Pferden zu spielen pflegt, weiß man gemeiniglich, was ein Danaergeschenk bedeutet; dann liest man Vergil und später allerdings das ›Neue Wiener Journal‹.

 

 

Nr. 212, VIII. Jahr

23. November 1906.


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