Gerichtspsychiatrie


Psycholog. Der Privatdozent für Psychologie Dr. Hermann Swoboda (eines der Opfer des Fließ’schen Verfolgungswahnes) schreibt mir: »Kein Zweifel, dass es ein sehr interessantes Beginnen wäre, eine Berufspsychologie zu schreiben. Welche Verstandes-, Gemüts- und Willensqualitäten zu den einzelnen Berufen befähigen und zu ihrer Ergreifung drängen. Einen bescheidenen Ansatz hiezu haben wir dieser Tage erhalten, zugleich einen Höhepunkt zeitgenössischer Gerichtspsychiatrie. ›Die scheue Zurückhaltung‹, so sagte der Gerichtspsychiater im Prozesse König, ›die am Angeklagten stets beobachtet wurde, steht mit seiner Lebensstellung, mit seinem Bildungsgang, sein feines Empfinden mit dem Gefühlsleben eines Schneidergehilfen im Widerspruch‹. Ja, das hat noch gefehlt, dass auch die unteren Volksschichten ein so feines Empfinden haben und den Psychiater in Verlegenheit bringen! In einer Beziehung ist das wohl ein Vorteil. Wer nichts versteht, braucht nichts zu verzeihen. Unverschämt! Ein Mensch ohne Matura maßt sich eine derart ideale Auffassung der Liebe an, wie man sie nicht einmal bei ›Gebildeten‹ findet. Nennt denn der Kulturmensch nichts mehr sein ausschließliches Eigentum? Gibts denn kein Privilegium auf die höheren seelischen Regungen? Dieser hilflose Junge, dessen Leben mit dem Glauben an etwas absolut Reines so innig verknüpft ist, dass er durch die Vernichtung dieses Glaubens zum Vernichter anderer und seiner selbst wird, ist er nicht eine tief erschütternde Gestalt? Ein Mensch, der sein Ideal nicht überlebt! Und der sich an ihr, die ihm das Ideal getötet hat, durch Tötung rächt! Tod um Tod! Sie hat ihm die Seele getötet, so tötet er ihren Leib. Ein schön geschlossener Kreis von Geschehnissen. Eine Handlung, so einheitlich, so logisch, so durchgeführt, wie man sie für gewöhnlich nur im Drama, aber nicht im Leben antrifft. Es steckt universale Gerechtigkeit in dieser Handlung. Unmodifiziert treten die ehernen Gesetze der Vergeltung in die Erscheinung. Keine praktische Reflexion stört das Walten der inneren Notwendigkeit…. Aber ach, das alles hat sich in der Brust eines Schneidergehilfen abgespielt! Nein, er kanns nicht aus eigenem haben, sagen die Geschwornen, die Lektüre ist schuld, die schlechte Lektüre. Nun, der Roman, in dem eine solche Begebenheit vorkäme, wäre schon um des Themas willen auf keinen Fall schlecht. Es ist gegenwärtig wirklich schwer, ein besserer Mensch zu sein. Ist’s ein Gebildeter mit feinem Empfinden, dann heißt’s gleich ›abnorme Reizbarkeit‹, ›labiler Zustand des Nervensystems‹, ›pathologische Schwäche‹ u. dgl. Ist ein Ungebildeter feinfühlig, so wird ihm das Recht dazu förmlich abgesprochen. Wohin soll sich das feine Empfinden flüchten aus dieser Welt mit dem Dickhäuterideal? Wenn sich doch der Angeklagte nach den Ausführungen des Gerichtspsychiaters zum Wort gemeldet und dem Sprüchel ›Schneider, gib’s weiter‹ gemäß etwa das Folgende gesagt hätte: ›Der Mangel an Zurückhaltung im Urteil, wie Sie ihn, meine Herrn Geschworenen, soeben beobachtet haben, steht mit der Lebensstellung, dem Beruf und Bildungsgange des Herrn Doktors durchaus im Widerspruch. Die Art jedoch, wie er sich über mein Gemüts- und Empfindungsleben geäußert hat, steht mit dem, was man bisher von den Gerichtspsychiatern gehört hat, in vollkommenem Einklang‹«…. Ein Nestroy-Motiv war es, das Erstaunen über den Widerspruch zwischen einem niedrigen Berufe und einem feinen Seelenleben zu verspotten: »Auch der Kommis hat Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfaß lahnt und in süße Träumereien versinkt!«

 

 

Nr. 212, VIII. Jahr

23. November 1906.


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