Zeitgenosse


Zeitgenosse. Eine Gerichtsverhandlung: Dem Richter wird der Vagant F. H. wegen verbotener Rückkehr vorgeführt. — Richter: Sie wissen, dass Sie abgeschafft sind? — Angekl.: O, ja! — Richter: Warum kamen Sie zurück? — Angekl.: Dass i wieder eing'spirrt werd' ... jetzt im Winter gibt's ka Arbeit nöt! — Das Urteil lautet auf einen Monat strengen Arrests. — Angekl. (enttäuscht): An' Monat? — Richter: Sie können berufen! — Angekl.: Dös is mir ja z' wenig! ... I will drei Monat', dass i im Summer außi kumm, wann's wieder a Arbeit gibt! — Da es kein Rechtsmittel eines Verurteilten gegen zu geringe Strafe gibt, wird H. zur Straf verbüßung abgeführt.« — Weiter können wir's in dieser besten aller Welten wohl nicht mehr bringen! Der strafende Staat, der Momo der Erwachsenen, hat seine Schrecken eingebüßt — auf freiem Fuß sein bedeutet Schmach und Jammer. Es gibt eine Verurteilung zur Freiheit. Aber F. H. braucht nichts anzustellen, um die Unfreiheit so oft er will zu genießen. Er muß bloß nach seiner jedesmaligen Enthaftung und Abschiebung in die »Heimatsgemeinde« nach Wien zurückkehren. Fand er dort nicht Arbeit, so findet er hier Verpflegung. Ein Staat, der mehr Arreste als Arbeitsstätten hat und der den armen Teufel verhungern ließe, wenn's nicht Gesetze gäbe, die der arme Teufel übertreten kann, ist ein Musterstaat. Wenn der Revertent es schließlich zu einer lebenslänglichen Verköstigung im Prytaneum bringen könnte, wäre die Straferei endgiltig ad absurdum geführt. Unsinn wird Vernunft, Plage Wohltat.

 

 

Nr. 194, VII. Jahr

31. Januar 1906


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