Tier


Tier. Sie schreiben — natürlich anonym —: »Ein Wort zu der leidigen Tetschener Kußgeschichte: Ihnen genügt also die juridische Begründung des Urteiles nicht? Hm, nun, dass Sie vielleicht pervers genug gewesen wären, sich nach den Küssen der alkoholduftenden Dirne, vor Wohlbehagen schmatzend, die Lippen abzulecken, ist Ihre Sache, und gehört weiter nicht hierher. De gustibus non disputandum est. Dass aber ein Mensch, der, wie es scheint, jedes Rechtssinnes bar ist, seit Jahr und Tag sich bemüht seine Anschauungen den Mitmenschen zu suggerieren, das ist ein Crimen, welches mehr als '14 Tage Arrest verschärft durch 4 Fasttage' verdient«. Ich glaube, dass ich, der schlimmsten Verirrung schuldig, da ich mich frei zu ihr bekenne, so verachtenswert nicht sein kann wie der Gemütsmensch, der sich hier incognito und im Namen der bürgerlichen Moral ereifert. Unterzeichnet ist der Brief — ich habe schon lange nicht einen so typischen bekommen — mit der Wage der Themis. Der Kerl, der mir Mangel an Rechtssinn vorwirft und anonym schimpft, ist also vermutlich Jurist, sitzt vielleicht in irgend einem Bezirk über Ehrenbeleidigungen zu Gericht. Wie gut, dass es die Institution der anonymen Briefe gibt! Die reine Gesinnungsschäbigkeit würde sich überhaupt nicht kenntlich machen, wenn sie es nicht ohne Unterschrift dürfte, und gleichsam unter der Oberfläche ihr Werk verrichten. Anonyme Briefe erinnern daran, dass eine gute Gesellschaft lebt, die zu verachten die Pflicht der guten Menschen ist. Ich bin von der Überzeugung durchdrungen, dass der Mann, der meine Kritik des Tetschener Urteils auf Perversität zurückführt, eine Zierde seines Standes, der Stolz seines Berufes ist. Er hat nur den einen Fehler, dass er »seit Jahr und Tag« die 'Fackel' liest. Die geht nun in den achten Jahrgang, aber der Herausgeber geht noch immer nicht in sich. Nie hat er sich bemüht, seine Anschauungen den Mitmenschen zu suggerieren, nie sie gezwungen, seine Anschauungen kennen zu lernen. Wem's nicht paßt — Aber meine anonymen Schimpfer sind meine anhänglichsten Leser. Nun, sie verschwenden des Hasses Müh'. Ihre Zuschriften ermutigen mich nicht einmal: auch ohne sie bliebe ich bei meiner Ansicht. Und bleibe es in der Tetschener Kuß-Affaire. Ich habe in Nummer 196 unter der Devise »Quer durch Österreich« das Schauderhafteste, das sich bei uns in den letzten Wochen begeben hat, kommentarlos zusammengestellt. Der Sprachlosigkeit, in die man hierzulande manchmal verfällt, glaube ich den rechten Ausdruck gefunden zu haben. Die Tetschener Notiz durfte ich zitieren, wiewohl eine amtliche Zuschrift in der Tagespresse ihrer Tendenz opponiert hatte. An der Tatsache selbst war ja nicht gerührt worden: 14 Tage mit 4 Fasttagen für einen Kuß, An anderer Stelle — in derselben Nummer — nahm ich von der amtlichen »Aufklärung« Notiz, die der 'Neuen Freien Presse' ein merkliches »Na also« entlockt hat: Das Mädchen, das geküßt hatte und dafür eingesperrt wurde, ist eine Prostituierte. Und bei dem Klang dieses Wortes hält sich die christliche Nächstenliebe die Ohren zu, und bekreuzigt sich die jüdische Journalistik. Aber ich irrte, da ich das Behagen an dem gegen eine Prostituierte verübten Unrecht für einen spezifisch bourgeoisen Zug hielt und schrieb, der gute Bürger könne nun ruhig beischlafen. Auch der sozialdemokratische Philister kann es. Denn da die letzte Nummer der 'Fackel' in Druck ging, gab auch die 'Arbeiterzeitung' ihre vollste Übereinstimmung mit dem Tetschener Urteil kund. Der Gerichtsvorstand teilte der Redaktion höflichst mit, dass der Kuß nicht in übermütiger Laune gegeben und die Geberin nicht wegen des Kusses verurteilt wurde, sondern dass sie »eine öfter von der Dresdener Sittenpolizei abgestrafte Prostituierte ist, die schuldenhalber aus Dresden flüchtig geworden war, sich in Bodenbach bereits seit vierzehn Tagen unterstandslos herumtrieb und schließlich vor dem Bahnhof ihr Gewerbe auf eine schamlose Weise ausüben wollte, indem sie den ankommenden Reisenden um den Hals fiel und sie mitzulocken versuchte«. Hört, hört! ruft das sozialdemokratische Blatt, bringt die Worte, die das Entsetzen der bürgerlichen Gesellschaft wecken sollen, in Sperrdruck, und revoziert die scharfe Kritik, »die wir an die falsche Voraussetzung geknüpft haben«. Denn der Richter hat »ein formell gesetzmäßiges Urteil gefällt«. Dass ein solches die Kritik mundtot macht, ist eine Auffassung, die im Rahmen der 'Arbeiterzeitung' überraschend wirkt. Und dass dieser die Berufung auf die Dresdener Sittenpolizei imponieren würde, war just auch nicht vorauszusehen. Man hätte vielmehr geglaubt, dass das fürchterliche Proletarierschicksal, das die Tetschener Gerichtsbarkeit zur Begründung des Urteils benützte, in der 'Arbeiterzeitung' einen Anwalt finden, dass sie den Herren Delavigne und Keibl antworten würde: Für so dumm, anzunehmen, dass selbst in Österreich wegen eines Kusses — Unsittlichkeit oder Ehrenbeleidigung? — einer Frau strenge Arreststrafe diktiert werde, sollt ihr uns nicht halten. Wir haben bloß das Urteil nicht verstanden, aber sogleich vermutet, dass der Kuß nur der »Anlaß« gewesen sein konnte. Jetzt, da wir hören, dass es sich um eine gehetzte Prostituierte handelt, verstehen wir das Urteil und finden es grausam. Ohne den Kuß wäre das Mädchen — vielleicht — für einen Tag in den Polizeiarrest gekommen. Nun ward aber durch den Kuß das »öffentliche Ärgernis« gegeben, das hierzulande immer entsteht, wenn ein paar Funzen es empfinden wollen, und in derart kompliziertem Fall »gewerbsmäßiger Prostitution« schreitet der Strafrichter ein. Es ist wahr, dass das Strafminimum des blödsinnigen Gesetzes ein Monat ist. Indeß, wenn die Praxis nicht die Jahre in Monate, die Monate in Tage verwandelte, würde die österreichische Bevölkerung den Tag, da ihr ein neues Strafgesetz geboren wird, im Arrest erleben. Aber ein Mörder muß bloß an dem Jahrestag seiner Tat fasten und die Prostituierte — dies blieb unberichtigt — viermal in vierzehn Tagen! Nimmer wird uns ein solches Urteil zur stummen Anerkennung seiner »formellen Gesetzmäßigkeit«, zur Rückziehung unserer Kritik bestimmen können. Die bürgerliche Presse — jene 'Allgemeine Zeitung' zum Beispiel, die die gemeine Zeitung ist für Alle — mag von der »Milde« des Urteils in dem Augenblick zu schwärmen beginnen, da sie erfährt, dass es eine Prostituierte getroffen hat. Wir Schützer der Ausgestoßenen werden die judizielle Schärfe, in der sich der pharisäische Haß der »Gesellschaft« zu vier Fasttagen geformt hat, verdammenswert finden. Wir sprechen das Opfer der Dresdener Sittenpolizei frei und klagen eine staatliche Ordnung an, die die Ausbeutung der Weiblichkeit an dem Weib ahndet, die so der »schamlosen Ausübung der Prostitution auf einem Bahnhof« Vorschub leistet, und die in ihrer perversen Gerechtigkeit schließlich den Hunger mit vier Fasttagen bestraft!

 

 

Nr. 197, VII. Jahr

28. Februar 1906.


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