Der Speisestreik der Ärzte


Arzt. Wenn man die Unzuträglichkeit einer Sache bezeichnen und sich hiezu eines drastischen Vergleiches bedienen will — welcher Vergleich würde wohl das Wesen des Widersinns am stärksten ausdrücken? Sicherlich doch die Wendung: »Das ist genau so, wie wenn man einem Spitalskranken verdorbene Nahrung verabreichte«. Dass es geschehen könnte, hält man für so ausgeschlossen, dass die Vorstellung seiner Möglichkeit sich zur Illustrierung einer baren Unmöglichkeit eignet. In Österreich nicht mehr. In Österreich ist die Vorstellung zur Wirklichkeit geworden. In Österreich wird den Spitalskranken wirklich verdorbene Nahrung verabreicht. In diesem Lande verblaßt die Bildkraft eines Vergleichs, um dessen Inhalt Platz zu machen. Es ist so, wie wenn eines Tages entdeckt würde, dass faktisch Eulen nach Athen getragen werden. Ein Speise-Streik der Ärzte des Epidemiespitals ist die letzte Wiener Sensation: sie weigern sich, die ungenießbare Kost zu essen und protestieren dagegen, dass dieselbe ungenießbare Kost den Patienten gereicht werde. Und wir hören wieder die ungenießbare Antwort: »Von kompetenter Stelle ist eine Untersuchung dieser Beschwerden hinsichtlich ihrer Stichhältigkeit in Aussicht genommen«. Die Spitalsdirektion hat wiederholt Abhilfe versprochen, aber in spaltenlangen Artikeln, Communiqués, Interviews etc. wird versichert, dass sie gegen die Spitalsköchin machtlos sei, die »als Beamtin der 11. Rangsklasse direkt der Statthalterei unterstehe«. Die Ärzte wenden sich »direkt« an die Statthalterei und erklären, dass sie »es nicht länger mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können, ruhig zuzusehen, wie die Patienten durch die schlechte Kost beeinträchtigt werden«. Die Ärzte hätten aber diese Duldung auch nicht einen einzigen Tag mit ihrem Gewissen vereinbaren, sondern sofort sämtliche Kochtöpfe der Gräfin Kielmansegg auf den Jour bringen sollen. Wie die Affaire verlaufen ist, weiß ich nicht. Nur so viel ist bekannt, dass die Statthalterei »Erhebungen pflegt«. Wahrscheinlich dürfte also den Ärzten und Patienten des Franz Josefsspitals durch eine Beförderung der Spitalsköchin in die 10. Rangsklasse geholfen werden.

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


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