Kinderfreund


Kinderfreund. Wann ich »mit der Beer-Sache fertig sein werde«? Das ist die Frage jener herzlosen Sensationsgier, die bockig wird, wenn sie den Obersschaum einer Affaire bereits abgeschöpft hat, und die sich nicht für Menschenschicksale, sondern für Artikelüberschriften zu erwärmen pflegt. Ich beantworte die Frage damit, dass ich einen vom 3. März datierten Brief der Frau Laura Beer reproduziere, den dem Berner 'Bund' eine Freundin der Verstorbenen zur Verfügung gestellt hatte und der in Wien unbekannt geblieben ist, da ihn die 'Zeit' nachgedruckt hat. Das 'Deutsche Volksblatt' hat in seinem einfallsreichen Kretinismus bekanntlich die Version verbreitet, Laura Beer (die in der Schweiz »eine Besitzung besaß«) habe sich erschossen, weil sie zur Überzeugung von der Schuld ihres Gatten und von der Gerechtigkeit der Wiener Justiz gelangt sei. Der Brief lautet: »Dear Dagmar. Nachdem wir so länge das empörendste Unrecht über uns mußten ergehen lassen, so dass man sich wirklich zähneknirschend fragt, ob denn ein solches Leben überhaupt noch lebenswert ist, scheinen jetzt die Wolken doch »a silver lining« zu bekommen. Die Aussage des Prof. Duschinsky, des ehemaligen Lehrers des jungen F..... sprach so eklatant für dieses Burschen Verlogenheit, dass das Gericht bei aller Eingenommenheit gegen uns doch nicht umhin konnte, das Urteil einstweilen zu sistieren und jetzt endlich durch eine Menge Zeugeneinvernahmen das zu tun, was es längst und vor der Verhandlung hätte tun sollen, nämlich die Glaubwürdigkeit der Denunzianten zu prüfen. Dabei stellt sich nun immer klarer die haarsträubende Leichtfertigkeit der ganzen Anklage heraus, deren Nichtigkeit, deren Komposition aus Hysterie, Rache, Neid und Ressentiment ich vom ersten Moment an durchschaut und an einem der Übeltäter ja auch gerächt habe. Niemand weiß so gut wie ich, wie fern Th. B. konträrsexuale Neigungen liegen; von »Handlungen« gar war nicht einmal in der Anklage die Rede. — Man kann noch sagen, dass er in keinem anderen Lande als in dem klerikal-bureaukratisch regierten Österreich wäre verurteilt oder überhaupt angeklagt worden; und ich weiß noch heute nicht, soll ich darüber lachen oder weinen, dass man aus meinem schulterlangen Haar ein Argument für seine »Schuld« gezogen hat. Der Vorsitzende des Senats hat erklärt, das Urteil ruhe auf einer festen Säule, und das sei die Wahrheitsliebe des jungen F..... Dieses »Kind« — 16 Jahre alt — wurde von seiner Mama und seiner früheren Gouvernante als »Fanatiker der Wahrheit« bezeichnet. Jetzt, seitdem man diesem hoffnungsvollen Denunzianten infolge der Schilderung, die sein Lehrer ungebeten von ihm entwarf, etwas genauer zusieht, entpuppt er sich immer mehr als ein Fanatiker der Lüge, respektive einer lügnerischen Phantasie, mit der er sich à tout prix interessant und andere schlecht machen will. Er hat auch in der Schule gelogen, Aufgaben gefälscht, gegen seine Mitschüler intrigiert und sie völlig unbeweisbar beschuldigt, unsittliche Attentate an ihm versucht zu haben. — Also so sieht die Säule des Urteiles gegen meinen Mann aus, und diesem einzigen Zeugen gegen ihn hat man geglaubt, gegenüber einem Dutzend anderer, die nur das Rühmlichste über ihn aussagten. Man möchte nun glauben, dass bei solchem Stand der Dinge dem Unrecht, das an uns begangen wurde, soweit das überhaupt noch möglich ist — schnellstens ein Ende gesetzt würde. In Ländern mit westlicher Kultur würde auf eine solche Diskreditierung des einzigen Belastungszeugen hin (was ich hier oben niederschrieb, ist alles buchstäblich wahr) vermutlich die Staatsanwaltschaft selbst den ganzen Prozeß einstellen. Hier handelt es sich der Staatsanwaltschaft nicht um Recht und Unrecht, sondern darum, à tout prix Recht zu behalten, sich nicht zu blamieren, den Naturforscher und Schriftsteller Theodor Beer, dessen ganzes freies Streben und Wirken ihr ein Dorn im Auge ist, zu ruinieren. Das wird und soll seinen Feinden aber nicht gelingen, und sollten ihn die Intrigen einer übermächtigen Bureaukratie doch ins Gefängnis bringen, umbringen können sie ihn nicht, dazu ist er zu stark. Er ist in dieser ganzen Leidenszeit nur gewachsen, und sollte ihm jenes Martyrium nicht erspart bleiben, so kann er dann um so stolzer und nachdrücklicher gegen die ganze Gesellschaft hier seine flammende Anklage erheben ... Für mich mit meinem gewalttätigen Temperament ist es aber schwer, dies alles in Ruhe zu ertragen. Fast scheint mir die Vendetta vernünftiger als unsere Rechtsordnung ... Und manchmal möchte man solipsistisch mit einem Revolverschuß dieser ganzen Welt voll Unrecht und Verrat ein Ende machen. Wir haben so viele Enttäuschungen in dieser Sache erlebt, dass ich schon sehr pessimistisch geworden bin; dennoch: »While there is life, there is hope!« Für all Deine stets bewährte Liebe und Treue in dieser schwierigen Zeit innigsten Dank: Love and kisses. Laura.« Das Wiederaufnahmsgesuch wurde abgewiesen, und Laura Beer erschoß sich. Als ich den Artikel für Nr. 200 schrieb, hatte ich von dem Brief keine Ahnung. Ich verweise auf die merkwürdige Übereinstimmung in der Disponierung von männlichem Heroismus und weiblicher Hysterie (J'accuse und Revolverschuß). Wer jetzt noch der Tat der Ärmsten andere Motive unterschiebt als die Verzweiflung eines »gewalttätigen Temperaments«, das aus dem Unrecht keinen Ausweg sah, verdient, das Ostergeschwätz des Herrn Hugo Wittmann über »Ein Frauenschicksal« zu Ende lesen zu müssen.

 

 

Nr. 201, VIII. Jahr

19. April 1906.


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