Die Affäre Caruso
Darwinist. Zur Affenkomödie Caruso: Die öffentliche Meinung New-Yorks muß gegen die öffentliche Meinung Wiens in Schutz genommen werden. Das amerikanische Schamgefühl mag ja eine garantiert solide Sache sein, über die man sich auf unserem alten Kontinent lustig machen darf, und es mag wahr sein, dass dort drüben über hundert europäische Defraudanten mehr Freude ist, als über einen europäischen Wüstling. Trotzdem muß gesagt werden, dass in der Affaire Caruso nicht jenes Gefühl die Hauptrolle gespielt hat, das man in kultivierten Zonen als »sittliche Entrüstung« mit Recht verabscheut. Im Gegenteil scheint mir ein Gefühl für sexuelle Freiheit den ganzen Rummel bewegt zu haben. Nur die Dummköpfe der europäischen Pressen halten es für Prüderie, wenn die amerikanischen Frauen einen Angriff auf ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zurückweisen. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz der Herr Caruso verurteilt wurde, aber ich vermute, dass nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein will, gegen die Handfertigkeit des großen Mannes geschützt werden sollte. In Amerika wahrt man den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt. Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollten, und ein unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen. Man muß nur ein paar Mal diese Zudringlichkeit verglaster Blicke — wenn man mit einer Frau etwa ein Theater oder ein Restaurant betritt — erleben, um die amerikanische »Prüderie«, die das Bett eben nicht als die Domäne des Mannes anerkennt, für eine kulturvollere Erscheinung zu halten als die mitteleuropäische Verfehmung sinnlicher Frauen. Bezeichnend für den Idiotismus, mit dem man hierzulande eine Frage der Freiheit als eine Frage der Moral auffaßt, ist der journalistische Eifer, der dem Lebenswandel der Mrs. Graham nachspürt, um dem sexuellen Übergriff des Herrn Caruso eine mildere Beurteilung zu sichern. In New-York würde ein Wiener »Steiger« wegen Belästigung einer Kokotte nicht anders behandelt werden, als Herr Caruso wegen Belästigung einer Mutter; und die ›Neue Freie Presse‹ entsetzt sich darüber, dass »bei der Verhandlung nicht einmal nähere Mitteilungen über die Person der Mrs. Graham gemacht wurden, und ob ihre Vergangenheit eine makellose sei.« Ist sie es nicht, so hatte Caruso nach österreichischer Auffassung womöglich ein Recht, das Kind, das Mrs. Graham an der Hand führte, als der Sänger sie abknutschte, über die Vergangenheit seiner Mutter aufzuklären. Das ›Extrablatt‹ macht die Konzession, dass »die Belästigung anständiger Frauenspersonen auch bei uns der gerichtlichen Ahndung unterliegen sollte«, — so dass also eine Erweiterung der sittenrichterlichen Befugnis unserer Justiz die Folge wäre und jeder Janopulos wenigstens erreichen könnte, dass die Tugend, auf die er es abgesehen hatte, gerichtsärztlicher Prüfung unterzogen würde. So rigoros denkt auch Herr Caruso. »Er habe Frau Graham bemerkt, doch habe er sich von ihr sofort abgestoßen gefühlt; denn sie, nicht er, hätte sofort mit Avancen begonnen, welche er dahin deuten mußte, dass sie keine anständige Frau sei«. Diese Edelmänner wollen natürlich nur mit »anständigen Frauen« zu tun haben, wenn es sich ihnen um eine Unanständigkeit handelt. Und welcher Spießer wüßte im geeigneten Moment nicht den Spieß umzudrehen? Noch einiges zur Charakteristik des bedeutenden Mannes: »Der diensthabende Sergeant der Polizeistation beschrieb die Szene im Dienstzimmer der Station nach der Festnahme. Caruso zog eine Visitkarte hervor und rief in großer Erregung aus: Sehen Sie her, ich bin Caruso, schicken Sie sofort zu Conried!« Der Sergeant antwortete: ›All right, ich habe nichts mit Conried zu schaffen, sondern mit Ihnen.‹ Caruso sagte: ›Dann hören Sie doch, ich bin Caruso, der große Tenorist!« … »Der nächste Zeuge verursachte laute Heiterkeit durch seine Aussage: Caruso versteht nicht englisch. Vielleicht, wenn ich zu ihm sage, Caruso, wollen Sie Luncheon mit mir einnehmen, versteht er mich. Er versteht auch: Wie gehts? Schönes Wetter! Frühstück, Diner; aber wenig mehr.« Die Wiener Presse ist sehr erregt über die Unbill, die einem so hervorragenden Manne widerfuhr, und über die Rücksichtslosigkeit, mit der ihn auch die New-Yorker Journalistik behandelte. »Unmittelbar nach dem Eintritt Caruso’s ins Bureau Conried’s«, schreibt das ›Neue Wiener Tagblatt‹, »begannen die Reporter, von denen einer, ein typischer Amerikaner, während der Fragestellung zynischerweise nicht einmal die Zigarre aus dem Munde nahm, den Tenor einem scharfen Kreuzverhör zu unterziehen.« Welcher Zynismus! Und — man denke — ein »typischer Amerikaner« schreibt für ein New-Yorker Blatt! Darüber erstaunt ein Wiener Journalist, der offenbar kein typischer Wiener ist.
Nr. 213, VIII. Jahr
11. Dezember 1906.