Schülervorstellungen


Pädagog. Zum Thema »Schüler-Vorstellungen«: Liberale Journalisten bringen die »Klassiker« in einen geistigen, liberale Schulbuben bringen sie in einen etymologischen Zusammenhang mit der »Klasse«. Zu diesen Auffassungen gibt eine Schilderung, die ich der Zuschrift eines Lesers entnehme, die passende Illustration ab. Es war im Winter des Jahres 1905, als ihm die Protektion eines kleinen Buben einen Parkettsitz zu einer Schüler-Vorstellung von »Wallensteins Lager« und »Die Piccolomini« verschaffte. Die Geschichte spielt in Graz, könnte aber auch in Wien spielen (wenn der Bezirksschulrat der Jugend nicht »ihren Schiller« vorenthalten hätte). Ein großer Haufe kleiner Knirpse hat sich angesammelt und harrt der Kassa-Eröffnung. Hauptsächlich wohl Entree-Publikum, da die Sperrsitze im Vorverkauf vergeben wurden. »A klassisches Stuck um a Sechserl, i bitt’ Ihna, was die Dekorationen und die Kostüm schon allan wert san!« hatte eine Mutter gesagt. Aber auch die eigentlichen Benefiziaten bewiesen eine nicht weniger tiefe Kunstschätzung. »Bei Outhellou« begann ein etwa 12jähriger Enthusiast, »do hob i bereits nix mittagg’essen. Bis zwölfe war i in der Schul’ und um oans bin i schon dag’standen, dass i an guten Platz krieg’«. »I war aa bei Outhellou«, erzählt darauf ein anderer Habitué, »da kimmt a Indianer d’rin vor. Und er bringt sie um! Aber Schneewittchen hat mir do besser g’fall’n«. »Geh, Schneewittchen! Da war Outhellou do viel länger! Und i hab’ gar nix g’essen und hab’s do ausg’halten«. — Bis hieher ist die Schaubühne als moralische Anstalt zu betrachten. Ganz im Ernst, denn — stünde es nicht schlimm um die Kindergemüter, wenn sie für Outhellou verständnißvolleres Interesse zeigten als für Schneewittchen? »Aber wart’s nur, heut«, ruft einer, »Woullensteins Louger und die Pizzolomini, das wird erscht lang sein! Heut dauert’s bis um sechse und mir brauchen aa net mehr zahl’n!« Sobald sich die Tore öffnen, geht der Referent ins Parkett, durch dessen Nacht noch nicht einmal Friedlands Sterne strahlen, und tappt nach seinem Platz. Es wird auch nicht heller, da der Einzug des übrigen Publikums beginnt. Das braust herein wie ein Wildbach und poltert und stoßt und drängt! Es ist auch einige reifere Jugend dabei, höhere Schüler und Schülerinnen, Pensionsfräulein, die sich vielleicht schon »Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme« oder »Die Uhr schlägt keinem Glücklichen« ins Merkbüchlein geschrieben haben. Die Mehrzahl der Zuschauer aber sind Kinder. Die Schülervorstellung vor dem Vorhang nimmt denn auch parallel mit jener auf der Bühne ihren ungestörten Fortgang. Während Wachtmeister und Trompeter agieren, herrscht im Zuschauerraum ein Gesumme und Getöse, Geschwätze und Getrampel, als wäre der Akt ein Zwischenakt und der Zwischenakt ein »Respirium«. Die Wallenstein’sche Armee hat in der Tat einen harten Kampf zu kämpfen, in dem sie schließlich unterliegt. Einige Sachen interessieren allerdings: es sind ja lauter Soldaten! Wenn sie nur auch anständige Uniformen hätten — die da sind zwar auch schön, aber nicht die richtigen. Halt, jetzt tun’s tanzen, jetzt wird’s schön — ah, ein Pater, ha ha ha, das war gut, wie der mit dem z’sammg’stößt is! Und jetzt tun’s gar raufen, ah, das is großartig!! Is do a schön’s Stück! … Und wie sie am Schlusse das Reiterlied sangen und einander an den Händen faßten, wie im Ringelreihe, da hatte Schiller einen Erfolg errungen. Leider fuhren die »Piccolomini« auf dieser lobenswerten Bahn nicht fort, die Stimmung des Publikums flaute wieder bedenklich ab. Was diese vielen Generale, der Illo und der Terzky und der Buttler nur immer so viel zu reden haben? Wozu sie nur so viel hin und her gehen müssen? Es ist schrecklich fad! Ein Glück, dass der eine Alte wie a Bem oder a Krowot redt’ (der Darsteller des Isolani nämlich), aber der hat eine zu kleine Rolle … Drei Akte lang ging ein Gähnen, Scharren und Zischeln durch den Zuschauerraum, ja, die Aufführung daselbst erhob sich mitunter zu solcher Lebendigkeit, dass sich der erwachsene Zuschauer die bescheidene Erinnerung erlaubte: aber Kinderln, jetzt sind ja die dort an der Reihe! Da — im 4. Akt — das Buffet auf der Szene! Zwar stand die Tafel nur im Hintergrund, auch hatte Graf Terzky es versäumt, die Zuschauer zu seinem Bankett einzuladen, aber dennoch: das war eine dramatische Steigerung. Die Generale tranken, brachten Hochs aus, eine Schrift wurde herumgereicht und jetzt — der Illo mit dem silbernen Becher: »Ah, ah, der hat ja einen Rausch! D’rum hat er gleich im ersten Akt eine rote Nase gehabt! Und habt ihr’s g’hört, zum Oktavio sagt er: falsche Katz’! und jetzt schimpft er mit dem Max! Na, wie der b’soffen is, nit amal der Werlberger Sepp hat so ein’ Rausch am Samstag. Paß auf, gleich wird er umfallen — Ah, das is wirklich großartig! …« Von jetzt an waren auch die Piccolomini ein anerkanntes Meisterwerk. Es herrschte echte Begeisterung, hunderte kleiner Hände klatschten rasend Beifall, hunderte Kehlen riefen jauchzend bravo! Der Erfolg von Schiller’s Wallenstein 1. Teil war besiegelt. — — Im Phrasenreiche des Freisinns klingt dies alles natürlich erhebender. Schülervorstellungen, Freie Volksbühnen, Schwurgerichte — der Liberalismus denkt im luftleeren Raum. Aber hat er es nicht selbst verschuldet, wenn heute Schiller in der Literaturgeschichte den Rang eines Taferlklassikers einnimmt?

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

31. Oktober 1906.


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