Wiener in Monte Carlo


Wiener in Monte Carlo. Oh, dieser unvermittelte Wechsel ästhetischen Mißvergnügens wird unsern Geschmack in heilloses Siechtum bringen! Sieht man den Rabbi Bloch, so findet man Herrn Vergani sympathisch, und sieht man Herrn Vergani, so sehnt man sich nach dem Rabbi Bloch. Man kommt in dieser Stadt zu keinem harmonischen Unbehagen. Man wird seines Antisemitismus nicht froh, weil er eine gewisse Judenfreundlichkeit auslöst, und man geht nicht im Liberalismus auf, weil man mit einem Blick auf die Gefolgschaft einer gewissen Verpflichtung zum Judenhaß inne wird. Schrecklich stelle ich mir das Chaos im Gemüt eines Menschen vor, der — wenn die beiden Repräsentationsfeste in derselben Nacht stattfänden — vom Konkordiaball zum Ball der Deutsch-österreichischen Schriftstellergenossenschaft führe. Dort wünscht man, dass der Abgeordnete Schneider den Kotillon arrangiere, hier erfaßt einen stürmische Sehnsucht nach O-Beinen. Aber heute will ich mich aller störenden Antipathie gegen die jüdische Journalistik entäußern und, ganz dem Genusse des 'Deutschen Volksblatts' hingegeben, bekennen, dass es wohl das Viehischeste und Ordinärste ist, was zur Zeit in Europa geboten wird. Man hat sich gewöhnt, die Antrottelung Heines durch Analphabeten als eine Wiener Erscheinung hinzunehmen, die so legitim ist wie das Sperrsechserl. Aber das Ausland soll auch erfahren, wie das Deutsche Volksblatt' über Musset denkt. Es schrieb: »Vorgestern kam im Intimen Theater einer der schamlosesten modernen französischen Dichter, Alfred de Musset, zum Worte. Dieser Dichter, der ein Jahr nach dem Tode des ihm an Erbärmlichkeit der Gesinnung ebenbürtigen Heinrich Heine gestorben ist, zeichnete sich in seinen Schriften insbesondere durch seinen niedrigen Zynismus, der alles Ideale in den Kot zerrte, und durch seine wunderliche Blasiertheit aus. Sein eigener zügelloser Lebenswandel und seine Liederlichkeit (so sagen seine Biographen) geben hiefür eine gewisse Begründung. Das Intime Theater gab Mussets dreiaktiges Lustspiel 'Le chandelier', zu deutsch 'Der Elefant', in dem der Autor die Liebe eines Knaben zur Frau seines Chefs schildert. Das raffinierte Weib benutzt diese, nach den Worten und der Ansicht des Dichters — 'reine' Liebe des Jünglings, um den Verdacht von ihrem wahren Liebhaber abzulenken. Das grausame, mit aller Sinnlichkeit geschilderte Liebesspiel hat sein Ende darin, dass sich Jüngling und Frau in 'wahrer' Liebe endlich finden ...« Und die Wiener »Intellektuellen«, die sich im Fall Heine wirklich mehr für eine nationale als für eine Angelegenheit der Kunst erhitzten, rühren sich nicht, wenn ein Rhinozeros im schönsten Blumenbeet herumstampft. Musset - »einer der schamlosesten modernen französischen Dichter«: kein Glossator der jüdischen Presse hat die sensationelle Denkmalenthüllung erwähnt... Aber ich verfalle wieder in meine alte Antipathie gegen den Liberalismus. Rasch ein Feuilleton des Herrn Vergani über »Wien in Monte Carlo« gelesen, und heimliches Sehnen nach allen Löwys wird meine Sinne umfangen. Herr Vergani war wirklich in Monte Carlo. Man müßte eigentlich seinen Tischnachbar an der Table d'hôte auffordern, über diese Tatsache ein Feuilleton zu schreiben. Über »Wien in Monte Carlo« sollte man Monte Carlo, nicht Wien vernehmen. Wien behauptet, dass »eine balsamisch reine Luft die Brust des Athmenden weitet«. Ob auch Monte Carlo dieser Ansicht wäre? .. So sachlich wüßte es jedenfalls nicht zu berichten. Man höre Herrn Vergani. Schon in der ersten Spalte erzählt er uns das Wichtigste: dass er »meist im Monat Februar oder März mit Frau und Schwägerin in Monte Carlo weile«. Dann, dass der Baumeister Stagl auch da ist. Und der Kaufmann Koch aus Graz auch. Und noch viele andere Persönlichkeiten von internationalem Ruf. »Wir wohnen im 'Hotel Savoy', in dem ein Österreicher aus Prerau, Herr Leopold Neumann, Direktor ist. Neumann war längere Zeit Geschäftsführer in dem ersten und teuersten Fremdenbeherbergungsetablissement von Monte Carlo, im splendid ausgestatteten 'Hotel de Paris', wo er sich jährlich 40.000 bis 45.000 Franken verdiente. Er heiratete die einzige Tochter des Besitzers des 'Hotels Savoy' und ist heute ein gemachter Mann«. Der letzte Satz klingt nicht ganz rassenrein; immerhin ist es erfreulich, dass Herr Neumann im 'Deutschen Volksblatt' besser abgeschnitten hat als Musset. Aus dem sachlichen Ton geht Herr Vergani plötzlich in den leicht satirischen über. »Natürlich gibt es hier«, schreibt er, »auch eine Unmasse von Wiener, Pester und Prager Juden, die sich mit ihren aufgedonnerten Kalles, wie überall, möglichst breit machen. Den Ritter von Leon sah ich auf der Straße und ein gewisser Sonnenschein wohnt neben mir. Er gerät stets in gelinde Raserei, wenn ich meiner Frau und meiner Schwägerin aus dem Volksblatte laut vorlese, und trommelt erbost an die Tür«. Da kann ich Herrn Sonnenschein nicht Unrecht geben. Laute Lektüre stört die Ruhe des Zimmernachbarn, dem man es auch nicht verübeln kann, wenn er glaubt, dass durch die Vorlesung eines Volksblatt-Feuilletons mit Wendungen vom »gemachten Mann« etc. sein eigener Jargon verspottet werde. Sollte eine Beschwerde des Herrn Sonnenschein bei Herrn Neumann Erfolg haben, so wird sich Herr Vergani gewiß als ein Opfer der jüdischen Solidarität bezeichnen und hinter dem Namen des Hoteliers im antisemitischen Bädecker das Sternchen durch ein Rufzeichen ersetzen. Vorläufig nimmt er seinen sachlichen Ton wieder auf und berichtet einige höchst interessante Tatsachen. Zum Beispiel: »Im Kasino stellte sich meiner Frau ein Mitglied der Deutsch-österreichischen Schriftstellergenossenschaft vor, die Witwe Drapala, die mit ihrer Tante, einer gemütlichen Ungarin, bereits seit November hier weilt«. Oder: »Im Kasinosaale traf ich Herrn Paul Schubert, der mir erzählte, dass er ein untrügliches Mittel habe, um stets zu gewinnen. Ich wünschte ihm viel Glück«. Oder: »Dr. Lueger läßt sich nicht verleiten, an den Tischen der goldprunkenden Säle zu spielen, dafür macht er abends gern mit dem kaiserlichen Rate Weidinger, dessen Frau und Porzer eine gemütliche Tarockpartie. Weidinger und Porzer streichen aber vormittags bei den Spieltischen herum«. Hoffentlich wird der Satz nicht mißverstanden werden: »Frau Swoboda klagt, dass sie jeden Augenblick mit ihren paar Louis fertig ist, während Frau Weidinger nur auf einzelne Nummern setzt« ... Herr Vergani selbst hat »über 800 Franken gewonnen«. Man kann's brauchen. Das Leben dort unten ist nicht billig. Was speist Herr Vergani in Monte Carlo? »Eine gute Rindsuppe, einen Tafelspitz mit Krenn, Gulasch, Wiener Schnitzel und Rostbraten mit Erdäpfelpüree ... Jeder einzelne Wunsch wird schleunigst erfüllt, ja, sogar Nudeln und Nockerln erhielten wir«. Das ist gescheidt! Und hoffentlich gibt's außer den lasterhaften Pariser Kokotten auch riegelsame Wienerinnen in Monte Carlo, damit die Wiener »etwas für's Gemüt« haben! »Wir werden zwar (auf dem morgigen Ball) »Gelegenheit haben, die exorbitantesten Toiletten der hiesigen Demimonde in Augenschein nehmen zu können«. Aber das ist doch nicht das Richtige. Man braucht etwas »zum Anhalten« ... Herr Vergani nennt Monte Carlo die »Perle der Riviera« und einen »Hesperidenapfel«. Aber »trolz aller Herrlichkeiten des Südens ist doch für uns hier der Augenblick der schönste, wenn wir unsere Zeitung und Briefe von unseren Lieben in der Heimat erhalten«. Ja, was wäre die Perle der Riviera ohne die Fassung des 'Deutschen Volksblatts'? Was ist der Hesperidenapfel, wenn Herr Vergani nicht hineinbeißt? Er ließ sich ihn wohl schmecken, rülpste und gab ein Feuilleton von sich ... Ich werde bei Herrn Neumann vorstellig werden. Vielleicht gibt er mir doch Herrn Sonnenschein zum Nachbarn an der Table d'hôte.

 

 

Nr. 198, VII. Jahr

12. März 1906


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