Brandes, Stein und Marmorek


Liebling. Die großen Leuchten der journalistischen Konfession heißen Brandes, Stein und Marmorek. Die Feststellung, dass der erste einer der tiefsten Flachköpfe des neunzehnten Jahrhunderts ist, dürfte auch durch die Tatsache nicht erschüttert werden können, dass Arthur Schnitzler das Shakespeare-Werk des Herrn Brandes in die Reihe der »zehn besten Bücher« gestellt hat. (Ein Wiener Verleger hat eine »Rundfrage« veranstaltet, die als Resultat eine wahre Orgie des Snobismus ergab. Die erlesensten Geister Wiens haben ihren Gibbon oder wenigstens Justi’s »Biographie Winckelmanns« auf dem Nachtkastl liegen, und Graf Lanckoronski schwankt zwischen Homer und dem Lyriker Grafen Hoyos). Herr Brandes bleibt ein literaturhistorischer Reporter, und der dümmste Leser der ›Neuen Freien Presse‹ weiß heute schon, dass ein Paul Goldmann in dieser Branche nicht weniger tüchtig ist. Aber die Herren Stein und Marmorek haben sich nicht der Literatur, sondern, »ursprünglich dem Pferdehandel bestimmt«, der Wissenschaft gewidmet. Da ist es schon schwieriger, die Spur einer grundlos verlassenen Richtung aufzufinden. Glücklicherweise ist kürzlich den beiden Lieblingen der ›Neuen Freien Presse‹, dem Philosophen und dem Bakteriologen, etwas Menschliches passiert, das freilich den gläubigen Lesern der Wiener liberalen Presse nicht verraten werden durfte. Die Berliner ›Post‹ schreibt am 14. November unter dem Titel »Ein jäher Fall«: »An der Berner Universität wirkte seit etlichen Jahren der aus Pest gebürtige, aber in Zürich eingebürgerte Philosophieprofessor Doktor Ludwig Stein. Er war namentlich ein großer Anziehungspunkt der russischen Studenten mosaischer Richtung und auch seine sozialdemokratischen Ansätze übten auf die vielen Töchter des Ostens merklichen Einfluß aus. Er galt lange Zeit als hohe wissenschaftliche Zierde der Hochschule der Bundesstadt, und Bern schien ohne Ludwig Stein gar nicht denkbar zu sein. Bezüglich der blumenreichen und schwülstigen Beredsamkeit ist ihm zweifellos ein gutes Zeugnis auszustellen. Im Verlag von B. G. Teubner in Leipzig hat nun Herr Prof. Stein eine Schrift erscheinen lassen, die den Titel führt: ›Die Anfänge der menschlichen Kultur, eine naturwissenschaftlich-kritische Betrachtung‹. Dieses kleine Werk hat durch Prof. Konrad Keller, Lehrer der Zoologie an der Universität Zürich, eine vernichtende Kritik erfahren, in welcher Stein der Kompilation haarsträubenden Unsinns und der Ignoranz in naturwissenschaftlichen Problemen beschuldigt wird. Prof. Keller läßt Herrn Stein eine Abfertigung zu teil werden, die namentlich durch das Stillschweigen des Angegriffenen und das volle intellektuelle Versagen seiner Freunde doppelt verblüffen mußte. Und statt sich zur Wehr zu setzen, hat Herr Prof. Stein in möglichster Eile Bern verlassen und sich in Berlin niedergelassen. Seine prächtig gelegene Villa über dem Aarestrom und der romantischen Hufeisenstadt steht nun einsam und verlassen da und ist zum Verkauf ausgeschrieben …« Um Herrn Stein dürfte seinen Anhängern nicht bange sein. Sie schätzen ihn als spekulativen Philosophen und wissen, dass er auch in Berlin mehrere Häuser besitzt und dort aus dem »Satz vom zureichenden Grund« größten wissenschaftlichen Gewinn gezogen hat. Schlimmer steht’s mit Herrn Dr. Marmorek. Bei ihm reimt sich »quae mutatio rerum« auf ein Serum, auf das er nun einmal sein’ Sach’ gestellt hat. Der in Pariser Briefen ordinierende Arzt Nordau hat es den Lesern der ›Neuen Freien Presse‹ verschrieben, aber es wirkt nur auf Nicht-Tuberkulöse. Ein Kranker, der an das Mittel des Herrn Marmorek glaubt, wird selig. Im städtischen Krankenhaus in Triest sind es acht geworden. Man lese den fast reuigen — Bericht, den Dr. Guido Mann darüber in der ›Wiener klinischen Wochenschrift‹ (18. Oktober 1906) erstattet: »Obwohl Marmorek selbst die Fortsetzung der Behandlung mit seinem Serum bis zum Verschwinden der Bazillen im Sputum verlangte und somit eine vollständige Heilung der Lungenschwindsucht voraussetzte, so haben sich doch die meisten Autoren begnügt, die Veränderungen einzelner Symptome, wie Husten, Auswurf, Fieber u. s. w. zu beobachten, so dass man sich aus den bisherigen Publikationen keinen unzweideutigen, definitiven Begriff bilden kann, ob das Marmorek-Serum wirklich ein eminent spezifisches oder nur ein einfach symptomatisches Mittel sei. So kam es, dass, trotz der schon vorliegenden, sehr ausgedehnten Literatur, mein Chef mich beauftragte, selbständige Versuche über die Wirkung des MarmorekSerums anzustellen. Dies tat ich um so bereitwilliger, als auf einer Tuberkulose-Abteilung im Krankenhause — wo man in bezug auf freie Liegekur, Überernährung, Hydrotherapie u. ä. nur beschränkte Mittel zur Verfügung hat — eine neue Richtung in der Behandlung sowohl zum Troste der Patienten, als auch zur Erholung des eigenen Gemütes mit wahrer Begeisterung eingeschlagen wird. Und unsere kleine Statistik schien uns insofern der Veröffentlichung würdig zu sein, als sie einerseits über eine siebenmonatliche Zeitspanne — somit also auch über einige mittelbare Folgen der Behandlung — ein gewisses Licht wirft, und anderseits über fünf Sektionen von mit Serum behandelten Fällen verfügt. Das Serum wurde uns in liebenswürdigster Weise von Herrn Dr. Marmorek selbst zur Verfügung gestellt, welcher sich ständig für die zeitweiligen Resultate lebhaft interessierte .... Im ganzen wurden 23 Fälle in Anspruch genommen und zwar — dem Wunsche Marmoreks entsprechend — weder zu leichte noch zu schwere .... Die Endresultate waren nun folgende: In einem Falle klinische Heilung (Entlassung ohne objektive Erscheinungen an den Lungen und ohne Bazillen im Sputum) in zwei Fällen Besserung (mit wenigen auskultatorischen Erscheinungen entlassen); in sieben Fällen keine Besserung zu konstatieren nach drei Serien à 21 Einzelinjektionen; in drei Fällen Unterbrechung der Behandlung, weil zu deutliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes eintrat ohne Beeinflussung der pulmonalen Erscheinungen; in zwei Fällen Wiedererscheinen im Krankenhaus mit Hämoptoe, nachdem sie in gebessertem Zustande entlassen worden waren; in acht Fällen Tod, u. zw. zwei während der Behandlung und sechs im Laufe der Zeit. Fünf Patienten davon sind im Krankenhause verstorben und bei diesen wurde die Autopsie vorgenommen. Dabei machten wir die auffallende Bemerkung, dass bei allen fast ganz gleiche Erscheinungen zu konstatieren waren. Es war nämlich bei allen der tuberkulöse Prozeß auf der Oberfläche beider Lungen so ausgedehnt, dass fast kein Millimeter Gewebe von Tuberkeln frei geblieben war; außerdem fanden sich mitten im Infiltrate zahllose kleine Kavernen und peribronchitische Abszeßchen. Es machte eben dieses Bild unwillkürlich den Eindruck, als ob das Serum, statt die Wirkung der Bazillen zu hemmen, ihrem spezifischen Zerstörungsprozesse eher Vorschub geleistet hätte.... Bei diesen trostlosen Resultaten müssen wir uns von vornherein gegen den Einwand wehren, dass wir nur schwere Fälle zum Versuche gewählt hätten. Es waren im Gegenteil, wie schon bemerkt, Fälle des ersten und höchstens zweiten Stadiums und nur einer hatte eine eben nachweisbare kleine Kaverne. Dagegen mußten wir leider bemerken, dass im Verlaufe der Behandlung — während nach der ersten Serie im allgemeinen eine Verminderung der katarrhalischen Erscheinungen aufzutreten schien — später doch in den meisten Fällen eine fortschreitende Verschlechterung des lokalen Befundes eintrat. Und darüber noch, dass auch der Allgemeinzustand — bei den Überlebenden — gar nicht günstig beeinflußt wurde, gibt folgende Gewichtstabelle einen Überblick. (Die Tabelle zeigt in neun von elf Fällen eine Gewichtsabnahme von einem bis zu vier Kilo.) Somit ergibt sich, dass wir mit dem Marmorek-Serum ein absolut negatives Resultat gehabt haben«. Auf der Klinik der ›Neuen Freien Presse‹ sind freilich günstigere Resultate erzielt worden. Man hat dreiundzwanzig Reklameartikel versucht und durch Herrn Nordau, den Auswurf der Journalistik, ist die Wirksamkeit des Marmorek-Serums bewiesen worden. Natürlich machte auch dieses Bild »unwillkürlich den Eindruck«, als ob die ›Neue Freie Presse‹, statt die Wirkung der Korruptionskeime zu hemmen, »ihrem spezifischen Zerstörungsprozeß eher Vorschub geleistet hätte«.

 

 

Nr. 212, VIII. Jahr

23. November 1906.


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