Ein journalistischer Zweikampf


Schiedsrichter. Das mit der Pathetik des schlechten Gewissens geführte Duell zwischen ›Zeit‹ und ›Neuem Wiener Journal‹ hat mit der Kampfunfähigkeit beider Teile eingesetzt und endet auf beiden Seiten mit einer vollständigen Abführung der eigenen publizistischen Moral. Die Gegner schieden unversöhnt. Der Kampf war reich an spannenden Momenten. So z. B. behauptete die ›Zeit‹, dass sie »nicht aus Schuldbewußtsein, sondern aus einem rein juristischen Grunde, den das ›Neue Wiener Journal‹ sehr wohl kennt, dessen Unkenntnis es aber bei seinen Lesern voraussetzt, nicht klagen könne: Zeitungen können nämlich als solche, nach einer Entscheidung unseres Obersten Gerichtshofes, nicht wegen Ehrenbeleidigung klagen, sondern nur Personen«. Blödsinn! Und das ›Neue Wiener Journal‹ erwiderte, dies sei »eine total verkehrte Behauptung, die leider durch ein in einem ganz speziellen Falle erflossenes Urteil des Obersten Gerichtshofes Gemeingut aller Zeitungen, die Butter auf dem Kopfe haben, geworden ist«. Blödsinn! Der Oberste Gerichtshof kann in keinem Falle, der ein gegen eine Zeitung gebrauchtes Schimpfwort betrifft, anders entscheiden. Nie aber hat er entschieden, dass ein Zeitungsherausgeber wegen einer gegen sein Blatt gerichteten Schmähung, wegen des konkreten Anwurfs ehrenrühriger Tatsachen nicht klagen könne. Jene noch immer nicht verstandene Entscheidung bezog sich auf den Ausdruck »Preßköter«, nicht aber auf die Beschuldigung, dass ein Blatt eine Erpressung begangen habe. Natürlich klagt die ›Zeit‹ auch nicht, nachdem Herr Lippowitz den Anwurf gegen ihre leitenden Personen gekehrt hat, und Herr Lippowitz klagt nicht, nachdem die ›Zeit‹ ebenso konkrete Beschuldigungen gegen ihn erhoben hat. Die Lettern wurden mit jedem Tage dicker, aber auch die Entfernung vom Landesgericht mit jedem Tage größer. Immerhin fiel bei dieser Gelegenheit wenigstens ein ruhiges und gerechtes Wort. Herr Lippowitz nannte sich nämlich eine »seit zwanzig Jahren ehrenvoll im journalistischen Dienste stehende integre Persönlichkeit«. Wie sich Herr Lippowitz die Integrität und wie er sich den journalistischen Dienst vorstellt, bewies er gleich am nächsten Tage (16. Dezember), da er einen Artikel über die neuen Gothaer Kalender brachte. In diesem Artikel steht der Satz: »An freudigen Ereignissen werden erwähnt … Die Geburt des ersten Enkels unseres Kaisers und des ersten Urenkels des Königs von Schweden«. Wie? So aktuell ist ein neuer Gothaer Kalender? Nein, so unvorsichtig ist Herr Lippowitz, wenn er mit der Scheere hantiert. Oder ist das ›Neue Wiener Journal‹ ein alldeutsches Blatt? Wie ist dann wieder sein — natürlich spontanes — Auftreten gegen die deutsche Polenpolitik zu erklären? Wen meint Herr Lippowitz, wenn er die Volkshymne singt? Wäre sie in Deutschland entstanden und somit im ›Neuen Wiener Journal‹ nachgedruckt, man wüßte wirklich nicht, welchen Kaiser Gott erhalten solle.

 

 

Nr. 214-215, VIII. Jahr

22. Dezember 1906.


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