Ruth St. Denis


Inder. Die Variétékritik, die sich in den letzten Wochen vollends als die »Weisheit des Brahmanen« entpuppt hat, wird, wenn’s bei Mata Hari und Ruth St. Denis nicht sein Bewenden haben sollte, mit den Adjektiven fertig sein. Fast der ganze Vorrat war für Mata Hari verbraucht worden, und als man endlich erkannte, dass Wiesbaden nicht am Ganges liegt, Buddha nicht in Pest thront, dass eine Bajadere auch vom Ballettmeister Gundlach abgerichtet sein kann und dass Ben Tiber zwar zu loben, aber kein indischer Gott sei, kam Ruth St. Denis, opferte für Waldmann & Brill und brachte die Kritik, die bereits alle Zettelkasten der Theosophie, Ästhetik, Ethnographie und Psychologie geplündert hatte, in tödlichste Verlegenheit. Was blieb übrig als einfach festzustellen, dass die Dame schön gewachsen sei und tanzen könne? Für die Impressionablen bleibt immer noch genug übrig. Die »tanzenden Hände der Ruth St. Denis« bieten vor allem Gelegenheit, der deutschen Sprache neue Wendungen und Windungen abzugewinnen, mit unerhörten Attributen zu jonglieren, Ellipsen zu schlingen und jenen Fußspitzentanz aufzuführen, den die Herren Hevesi und Kerr in Mode gebracht haben. Nur auf den Ressortmystiker der ›Neuen Freien Presse‹ hatte meine Besprechung des Unfugs beruhigend gewirkt; was er über die Ruth St. Denis schreibt, ist ganz sachlich und nur darum ungerecht, weil der Buddhismus das Malheur hatte, beim Ronacher später als im Apollotheater eingeführt zu werden. Aber die Anderen sind nicht zu bändigen. Das hat Herr von Hofmannsthal verschuldet, der das Schlagwort von der »unvergleichlichen Tänzerin« ausgab. So las man denn in der ›Zeit‹: »Gestern haben alle, die dabei waren, etwas Wunderbares erlebt. Etwas, das man: die Wiedergeburt der Tanzkunst nennen kann, oder … den leuchtenden Aufgang einer neuen Schönheit, oder … das Hervortreten einer unerwarteten und bezwingenden Genialität. Ruth St. Denis.« Und: »Das Vergraben des Gesichtes in die weißen Blumen. Seit die Duse … Dann das Ausschlürfen der Schale, das Küssen der eigenen Hände. Seit die Duse … Man wird sie an keiner Geringeren messen dürfen.« Diese Sätze, in denen die Begeisterung nicht Rufzeichen, sondern Punkte braucht, sind einem Artikel des geschicktesten und in allen Stilen perfektesten Wiener Journalisten entnommen, des Herrn Salten. Vor einiger Zeit noch schrieb er: »Laut mischt sich in der Posaunen Ton, der von der angefreundeten, sanft gekirrten Presse besorgt wird, das jauchzende Rufen der Kassiere« und »Des europäischen Konzerts Berichterstatter schreiben ihm nun die Rezensionen«. Das war fast so Hardenisch, wie der Satz des andern ›Zeit‹-Feuilletonisten: »So wenig wie die Museen haben die Hoftheater dem Erwerbe zu dienen, und dass sich das Burgtheater in die Schachermachei treiben ließ, ist ein Zeichen, wie völlig es, seitdem es führerlos wurde, den Weg verloren hat.« Die Mitnachahmerschaft des Herrn Ludwig Bauer mußte sich Herr Salten, der ja begabt und fast eine Persönlichkeit des stilistischen Anpassungsvermögens ist, wirklich nicht gefallen lassen. Es gibt ja noch andere Berliner Publizisten. Auch wird der schwere Brokatstil des Herrn Harden nicht mehr getragen. Jetzt kann man sagen: »Das Knistern des impressionistischen Flitters. Seit Alfred Kerr … Das Berauschen an den eigenen Subtilitäten. Seit Alfred Kerr … Man wird Herrn Salten an keinem Geringeren messen dürfen.« Wie schade nur, dass man solche Finessen selbst der »Lustigen Witwe« und dem Herrn Treumann abgewinnen kann. Dadurch wird die Impressionabilität, die sich an der Ruth St. Denis begeistert, erheblich entwertet. Und deshalb wird erst später entschieden werden können, ob mit dem Auftreten der indischen Tänzerin beim Ronacher außer einem neuen Monatsprogramm auch wirklich eine »neue Kunst« eröffnet wurde. Herr Salten meint bloß, dass man »die Folgen, die diese neue Kunst haben wird, nicht vorauszusehen brauche«. Aber erfreulich wärs schon, wenn man’s könnte. Er kann’s offenbar und verrät, dass »dieses Mädchen zum erstenmal auf der Bühne die Kunst des Ostens der Kunst des Westens nähert«, sie verbindet, vereinigt und »etwas schafft, das uns einen neuen Reichtum bedeutet«. Das wäre ja enorm! Ich hatte bisher gezweifelt, ob das anmutige Schlangenhandwerk, das die Dame übt, überhaupt Kunst sei. Und der treuherzige Kommentar des entzückten Vertreters des ›Deutschen Volksblatts‹ hatte mich in diesem Zweifel bestärkt: »So, gerade so, wie Miß Ruths Arme und Hände sich bewegen und an ihrem Leibe hinauf und hinab kriechen, so und nicht anders können sich boshaft drohende Schlangen bewegen, und so und nicht anders, wie Miß Ruth, mag ein von ihnen bedrohtes Mädchen seine Angst und seine endliche Überlegenheit über das giftige Getier zum Ausdrucke bringen.« Sehr richtig! Herr Salten meint aber, es sei kein Variété-Trick, der sich einstudieren läßt, sondern das Wesentliche an der Produktion sei, dass »an dieser Schlangengrazie die Geschmeidigkeit dieses ganzen Mädchenleibes gemessen wird, unwillkürlich gemessen wird«. Das Kunststück wird also nicht von einer häßlichen, sondern von einer graziösen Artistin gezeigt. Das ist freilich mehr, als etwa zum Beweise stilistischer Fingerfertigkeit notwendig ist. Aber die stilistische Fingerfertigkeit erzielt doch verblüffendere Wirkungen. Sie vermag vor allem das nichtigste Gegenstandswort mit den wichtigsten Adjektiven zu behängen. Sie vermag eine Empfänglichkeit zu züchten, der alle kritische Hemmung fehlt und die vom gleichgiltigsten Anlaß schwanger wird, und sie ist es, die schließlich jene scheußlichen Eingriffe verschuldet, die der Rationalismus der Herren Nordau und Goldmann seit Jahr und Tag an der Kunst verübt.

 

 

Nr. 216, VIII. Jahr

9. Jänner 1907.


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