Das sozialdemokratische Familienidyll


Schadchen. Das Widerlichste, was ich seit langem gelesen habe, ist die Jubelnotiz, die der Lokalschmock der ›Arbeiterzeitung‹ am Tage nach der »dritten Lesung« des Wahlrechtsgesetzes geliefert hat. Erwarten die Politiker der ›Arbeiterzeitung‹, dass die Erde still stehen und der Himmel sich öffnen werde, wenn das allgemeine Wahlrecht in Österreich eingeführt sein wird, so sehen wir die Feuilletongeister der Sozialdemokratie das Maß ihrer Seligkeit aus dem Familienleben holen. Eine unappetitlichere Sinnigkeit als die aus den folgenden Sätzen trieft, ist mir noch nicht vorgekommen: » … Ein wenig feierlich ist’s uns allen heute doch zu Mute. Etwa wie ein stürmischer Bräutigam doch ein wenig verlegen wird, wenn es nun wirklich, woran er ja eigentlich nie gezweifelt, zur Hochzeit kommt. Er hat ja die ganze Zeit über ganz bestimmt gewußt, dass ein so hübscher, willensfester, zäher und intelligenter Werber in der Liebe glücklich sein muß. Aber wenn die Umworbene dann endlich nach langem Zögern deutlich ihr ›Ja‹ sagt, wird man doch ein bißchen verlegen vor Freude. Es wäre ja töricht und unbegreiflich, es wäre ja haarsträubendes Unrecht gewesen, wenn das Abgeordnetenhaus der natürlichen Forderung noch länger widerstanden hätte. Wir hätten ja gewiß gewütet, geschrien, gekämpft, es wäre wahrhaftig blutiger Ernst geworden, wenn das Volk noch länger vertröstet und hinausgezogen worden wäre. Aber nun, da das Abgeordnetenhaus sein drittes ›Ja‹ gelispelt, nun überfällt uns doch einigermaßen die Rührung einer feierlichen Stunde. Herrgott, sagen manche, wartet doch mit dem Gerührtsein, bis auch das Herrenhaus seinen Segen gegeben hat. Das fällt uns aber gar nicht ein. Das Abgeordnetenhaus ist die Braut, um die wir warben, das Herrenhaus ist nur die Schwiegermutter, die wir mitbekommen. Natürlich hat die alte Dame gelegentlich der Kopulierung des Fräuleins Tochter ein gewichtig Wörtlein dreinzureden. Aber für den Werber ist doch immer das Ja der Jungen das Wichtigste. Die Frau Mama hätte natürlich gewünscht, dass die Tochter einen älteren Herrn nimmt (Alterszensus), womöglich einen vermögenden Herrn (Steuerzensus), aus guter Familie (Bildungszensus). Das Abgeordnetenhaus hat nun mit einer schönen Anwandlung von Jugendlichkeit gesagt: ›Nein, ich mag nichts von älteren Herren wissen, und wie viel einer hat, ist mir wurst.‹ Noch kann sich die gesetzte alte Dame in die schöne Vorurteilslosigkeit der Jungen nicht finden, aber schließlich, auch die Schwiegermama Herrenhaus wird dem Glück der Jungen nicht im Wege stehen wollen. Schließlich, jeder ist seines Glückes Schmied. Will die alte Dame sich’s einmal anders einrichten, so wird ihr wahrscheinlich die Junge auch nicht vorschreiben, wie sie leben soll. Nein, nein, nein, was auch die Klatscher zischeln, das Ja der Jungen ist das Wichtigste, die Alte wird sich milde, vielleicht seufzend, ins Unabwendbare fügen. Und deshalb gehen wir als glückliche Sieger schon heute in einigermaßen feierlichem Zustand herum, sind schon heute gerührt und bestellen bereits die Ausstattung zur Hochzeit.« — — Diese Verbindung von »blutigem Ernst« mit der milchigen Sentimentalität einer jüdischen Hochzeit ist charakteristisch. Dem Gebiet, aus dem diese Revolutionäre ihre Vergleiche holen, sind sie in Wahrheit zuständig, sie erbetteln sich von der bürgerlichen Gesellschaft ein »lautes, vernehmliches Ja«, und im Ernstfall stellt jeder einzelne seinen Güdemann. Aber der Vergleich läßt sich weiter durchführen, vielleicht bis zur Mitgift an politischem Besitz, auf die es der Bräutigam abgesehen hat und um die er in seinem sentimentalsten Innern zittert. Kurzum, die Sozialdemokratie ist ein Familienidyll geworden. Früher sprengte man den Rahmen der Familie und wurde Sozialdemokrat. Jetzt muß man erst Umstürzler werden, um Worte wie »Schwiegermama« wieder zu hören. Aber die Herren wollen’s nicht glauben, dass sie antiquierte Gehirne in ihren Schädeln haben. Wenn man’s ihnen sagt, wenn man sie, wie’s Bernard Shaw tat, als Muster bürgerlicher Solidität preist, antworten sie gar nicht oder mit jener mitleidigen Überlegenheit, hinter der man weiß Gott was für einen Schatz an Wissenschaftlichkeit und Überzeugung vermuten soll. In Wirklichkeit ist’s bloß jene »Chuzpe«, die diese vollendetsten Mischexemplare aus einem Professor der Nationalökonomie und einem Handlungsgehilfen in keiner politischen Lebenslage im Stiche läßt.

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


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