Die Riehlprozeß-Nummer des ›Simplicissimus‹


Satiriker. Der ›Simplicissimus‹ hat seine Aufgabe erfüllt. In Deutschland hat heute schon jeder Schuster mehr Simplicissimus-Witz als der ›Simplicissimus‹. Mindestens als dessen letzte Nummer, die Riehlprozeß-Nummer, der eine ungeheure Reklame vorausgegangen ist. Noch deutlicher als bei der Köpenicker Affaire hat der ›Simplicissimus‹ diesmal bewiesen, dass er einer großen satirischen Gelegenheit nicht mehr gewachsen ist und entweder die bequeme Mitarbeit der Realität nicht zu benützen oder ihre unbequeme Konkurrenz nicht zu ertragen vermag. Als ob der gewichtige Anlaß sogar auf die Gaben seiner vortrefflichen Zeichner drückte, wirken die Heine, Wilke, Gulbransson, Pascin und Thöny diesmal in einem böseren Sinne ausgezeichnet. Mit der Literatur des ›Simplicissimus‹ ist’s, seitdem er dem Herrn Roda Roda allwöchentlich seine Partieware abkauft, schlimm bestellt, und nicht einmal Herr Meyrink, der eine Vorliebe für den Buddhismus mit einer Abneigung gegen die österreichische Infanterie geschickt verbindet, vermag ihr auf die Beine zu helfen. Aber die Witze, die sämtliche Textlieferanten des Blattes über den Fall Riehl leisten, sind abgegriffener als die Mädchen, denen sie gelten. Und am abgegriffensten präsentiert sich die Wiener Note, die jetzt durch Herrn Alfred Polgar vertreten ist. Ich habe diesen jungen Journalisten einmal in die Literatur eingereicht. Ich sehe mich längst genötigt, ihn wieder zurückzuziehen. Ein gutes Feuilleton, das Herr Polgar seinerzeit geschrieben hat, hat alles Unheil verschuldet. Seither schrieb er dasselbe Feuilleton etwa hundertmal, und es ist nicht besser geworden. Immer mehr aber zeigte sich, dass weder die Fähigkeit, Dinge hämisch zu betrachten, die das Temperament Anderer verbrauchen, noch die Gabe, dort sentimental zu werden, wo andere Leute Humor haben, Wesensmerkmale künstlerischer Anlage sind, und dass zu den ermüdendsten Eindrücken einer Lektüre jene Unermüdlichkeit gehört, die einen dünnen Einfall durch eine ganze Gallerie gekünstelter Sprachbilder quält. Dass Herr Polgar begabter ist als die meisten Theaterreporter der Wiener Tagespresse, muß noch immer festgestellt werden, und manches Feuilleton, das er über Theaterdinge — nicht über Schauspielerei — schreibt, würde bei entsprechender Redigierung eine recht graziöse Notiz von zwanzig Zeilen ergeben. Stärker weht sein Athem die Zeitgeschichte nicht an. Er ist kein Stilist, gehört vielmehr zu jener Richtung jüngeren Wiener Schrifttums, die beharrlich »an« die primitivsten Regeln der deutschen Syntax vergißt. Aber seine winzige Physiognomie verdankt er wenigstens dem Studium einer ausgeprägten literarischen Individualität: Peter Altenberg’s. Darum bedenkt er auch keine mit seinem kraftlosen Hohn so oft und so gern wie diese. Dass sich der ›Simplicissimus‹ dazu hergibt, seinen namhaften Mitarbeiter von dessen treuestem Kopisten, der seinen Meister nur in dessen eigener Tonart verleugnen kann, aushöhnen zu lassen, ist im höchsten Grade widerlich. Man mag gegen Altenberg’s neuestes Gebräu einer seelisch-ökonomischen Weltanschauung und gegen seine Heilslehre, die den Ankauf einer Zahnpasta unter Leugnung von Sexualempfindungen predigt, satirisch gestimmt werden, mag auch bedauern, dass ein Tagesblatt seit Monaten den Dichter durch den skrupellosen Abdruck der gedanklich und sprachlich wildesten Exklamationen schädigt. Aber in seinen dürftigsten Abschnitzeln beweist ein Peter Altenberg noch immer hundertmal mehr echte Menschlichkeit und echtes Temperament, als ein Herr Polgar in seiner Vollendung, und kein Mensch hat heute in Wien ein geringeres Recht, sich über jenen lustig zu machen als dieser, der die Eigenart des Dichters nachstümpernd zur stilistischen Unart verzerrt hat. Wenn Herr Polgar in seiner Skizze »Das Haus der Illusionen« den Bordell-Prozeß zum Anlaß nimmt, den »Hetärenkult« zu begrinsen, so beweist er nur, dass er von zwei Dingen, die er zusammenwirft, keines versteht. Wie es sich ja auch für einen geistigen Hämmling und Hämling ziemt, dem die Illusionen so fremd sind wie die Leidenschaften. Aber dann schweige er nächstens! Es ist ein peinlicher Anblick, ihn mit dem ganzen verzehrenden Mangel an Leidenschaft, der seine schmächtige Seele schüttelt, Probleme bekriechen zu sehen.

 

 

Nr. 213, VIII. Jahr

11. Dezember 1906.


 © textlog.de 2004 • 08.12.2024 17:27:36 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.03.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen