a) Psychologie, Logik, Mathematik


1. Am frühesten und am deutlichsten trat diese Erscheinung, wie wir an den Beispielen Fechners (§ 69) und besonders Wundts (§ 70) sahen, auf dem Felde der Psychologie hervor. Im Gegensatz zu der kritischen Auffassung, die besonders Natorp in seiner Allgemeinen Psychologie (s. S. 433 f.) vertritt, ist eine Art Psychologismus entstanden, indem die Psychologie von einer ganzen Reihe von Denkern für die philosophische Haupt- und Grundwissenschaft erklärt wird. Außer den schon an anderer Stelle von uns behandelten Herbartianern, der Wundtschen Schule und Dilthey, gehört hierher namentlich die österreichische oder Brentanosche Schule: Franz Brentano (1838-1917, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874), der, ursprünglich vom Aristotelismus ausgehend, als die drei seelischen Grundfunktionen das Vorstellen, Urteilen und Fühlen (= Wollen) betrachtet und auf ihnen die drei Disziplinen der Ästhetik, Logik und Ethik aufbaut; sowie die von ihm beeinflußten, wenn auch später selbständig vorgegangenen Universitätslehrer Meinong (geb. 1853, in Graz, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894) der jedoch in seinen neuesten Schriften mehr Erkenntniskritiker (s. S. 495) geworden ist, von Ehrenfels (geb. 1859, in Prag, System der Werttheorie, 2 Bände, 1897 f.), Kreibig (geb. 1863, Wien), der ebenfalls eine Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie (1902) geschrieben hat, A. Marty (geb. 1847, in Prag) und A. Höfler (geb. 1853, in Wien, Psychologie, 1897). Nachösterreich gehören ferner F. Jodl (S. 487), dessen Lehrbuch der Psychologie 1908 in 3. Auflage erschien, W. Jerusalem (geb. 1854, Lehrbuch der Psychologie, 6. Aufl. 1918) und Meinongs Schüler St. Witasek (1870 -1915, Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908). Von Reichsdeutschen erwähnen wir, außer den schon früher genannten Ebbinghaus (1850-1909, Grundzüge der Psychologie, 1897, 3. Aufl. von E. Dürr 1911, vgl. desselben kurzen Abriß der Psychologie, 6. Aufl. 1919), Rehmke, Külpe, Münsterberg, Ziehen, weiter: Horwicz (Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage, 1872-78), Karl Stumpf (geb. 1848, in Berlin, Tonpsychologie, 2 Bände, 1883-90), H. Cornelius (geb. 1863, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897, vgl. S. 486), Kraepelin (Psychiater in München, Herausgeber der Psychologischen Arbeiten, Leipzig 1896 ff., 5 Bde.), W. Stern (Differentielle Psychologie, 2. Aufl. 1911), Th. Elsenhans (1862-1918, Lehrbuch der Psychologie, 1912) und Th. Lipps (Leitfaden der Psychologie, 3. Aufl. 1909; Raumästhetik 1893-96; Vom Fühlen, Wollen, Denken, 2. Aufl. 1907), der als Ethiker schon S. 444 genannt worden ist und Logik, Ethik und Ästhetik als ihrer Wurzel nach psychologische Disziplinen betrachtet, da alle wissenschaftliche Philosophie zunächst auf die unmittelbar psychologische Erfahrung (Betrachtung und Analyse der Bewußtseinszustände) gegründet sei. Seinem Lehrer G. Uphues folgend, vertritt eine Art kritischen Realismus Hermann Schwarz (geb. 1867, in Greifswald). Die geschichtliche Entwicklung der Psychologie haben namentlich Siebeck (vgl. I, 8) und Dessoir (geb. 1867, in Berlin) dargestellt. Internationale Kongresse für Psychologie fanden 1889 in Paris, 1892 in London, 1896 in München, 1900 in Paris, 1905 in Rom statt; ein solcher für experimentelle Psychologie zuletzt in Berlin 1912. Eine ganze Reihe von Zeitschriften widmet sich heute den verschiedenen Zweigen der psychologischen Wissenschaft (vgl. S. 418).

2. Mehr und mehr zieht neuerdings auch die Logik, die - außerhalb der Neuscholastik - in der Regel mit Erkenntniskritik und Methodologie der Wissenschaften verbunden wird, die modernen Denker wieder an. Als Hauptvertreter derselben nennen wir, außer den schon behandelten v. Hartmann, Wundt, Schuppe, der Marburger (S. 440 f.) und der Badener Schule (S. 444), Sigwart (1830 bis 1904, Logik, 2 Bde., 1873-78, 4. Aufl. hsg. von Maier 1911), Benno Erdmann (geb. 1851, in Berlin, Logik, 1. Bd.: Logische Elementarlehre, 1892, 2. Aufl. 1907); Th. Lipps (Grundzüge der Logik, 1893) und Edmund Husserl (geb. 1859, in Göttingen, seit 1916 in Freiburg), der in seinen Logischen Untersuchungen (I. Teil: Prolegomena zur reinen Logik, II. Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1900 f., 2. erweiterte Auflage: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913) eine streng apriorische Begründung der Logik fordert, daneben aber auch die Wichtigkeit der Erscheinungen betont und 1913 mit M. Geiger, A. Pfänder u. a. ein Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung begründet hat. Husserls »Phänomenologie« fordert eine »Reduktion« der individuell erfahrenen Einzeltatsachen zum notwendig-allgemeinen »Wesen« und der in die Weltkonstruktion eingefügten »Realen« zum reinen Bewußtsein. Die Wesenserkenntnis vollzieht sich durch unmittelbare Intuition und durch Deduktion; der fortlaufende Denkprozeß tritt dabei zurück. Die reinen Phänomene sind gegeben nach Ausschaltung der psychisch- physischen Natur und werden durch Akte der Reflexion aus dem unendlichen Felde absoluter Ergebnisse gewonnen. H. Maier (geb. 1867, in Göttingen, Psychologie des emotionalen Denkens, Tüb. 1907) stellt dem urteilenden Denken als zweite Grundform das aus dem Gefühl- und Willensleben hervorgehende »emotionale« zur Seite, das in der ästhetischen Phantasie und Betrachtung, im religiösen Glauben, in Sitte und Recht zum Ausdruck kommt. Vgl. ferner J. Cohn (geb. 1869, in Freiburg, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, 1908), Meinong (Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, 1907, 2. Aufl. 1908, Über Annahmen, 2. Aufl. 1911, Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Lpz. 1915), Ernst Cassirer (vgl. S. 440, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910), Störring (Logik, 1915).

Husserl hat auch eine Philosophie der Arithmetik (1891) geschrieben, während im übrigen die Philosophie der Mathematik namentlich von Gauß, Riemann (1826-1866, in Göttingen), Zöllner, Helmholtz, B. Erdmann (Die Axiome der Geometrie, 1877), Cantor, Dedekind, Brunschwig(1831-1916), Kronecker, O. Schmitz- Dumont (Mathematische Elemente der Erkenntnistheorie, 1878, Naturphilosophie als exakte Wissenschaft, 1895), H. Grassmann (Ges. mathem. WW., Bd. I, 1894-96) und neuerdings von G. Frege (Grundgesetze der Arithmetik, 2 Bde., 1893-1901), O. Stolz und J. Gmeiner (Theoretische Arithmetik, 1902), Hilbert (Grundlagen der Geometrie, 3. Aufl. 1908) und E. Schröder (Algebra der Logik, 3 Bde., 1890-1909) behandelt worden ist. Neben den Neukantianern Cohen, Natorp (s. dessen Logik der exakten Wissenschaften, 1910) und Cassirer (s. oben), welche die theoretische Philosophie in engste Beziehung zur Mathematik und mathematischen Physik gesetzt wissen wollen, beginnen auch die Mathematiker selbst neuerdings immer mehr auf eine apriorische, den bloßen Empirismus bekämpfende Begründung der Mathematik hinzusteuern: so namentlich der Engländer B. Russel (The Principles of Mathematics, Bd. I, 1903), die Franzosen L. Couturat (1868-1914, Les Principes des Mathématiques, Paris 1905, deutsch von Siegel, Leipzig 1908) und Poincaré (1857-1912, Wissenschaft und Hypothese, deutsch 1904, 2. Aufl. 1906, Der Wert der Wissenschaft, deutsch 1906, Die neue Mechanik, 1911, Letzte Gedanken, deutsch Lpz. 1913). Insbesondere der der Wissenschaft zu früh entrissene Poincaré hat gezeigt, dass die Wissenschaft niemals die Dinge selbst, wie der naive Dogmatismus meint, sondern stets bloß die Beziehungen zwischen den Dingen erkennt; außerhalb dieser Beziehungen gibt es keine erkennbare Wirklichkeit. Letzte unerklärbare, aber für den Bestand der Wissenschaft notwendige Annahmen sind die Sätze des Widerspruchs und der Identität für die Verstandesbegriffe, das Prinzip der vollständigen Induktion für die Begriffe der Sinnlichkeit. Die geometrischen Axiome wie die physikalischen Hypothesen sind konventionelle Festsetzungen, die für die Erklärung der Erscheinungen »bequem« sind; der Forscher selbst schafft die Tatsachen, indem er die Natur in den Rahmen seiner Begriffe spannt.


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