2. Lotze und ihm verwandte Philosophen


a) Leben und Schriften Lotzes. Auch Hermann Lotze war (1817) in der Lausitz geboren; seit 1834 in Leipzig, kam er unter den Einfluß des Ästhetikers und Religionsphilosophen Christian Weiße (S. 392), lernte Medizin und Physik bei E. H. Weber und Fechner, wurde Dozent der Philosophie und Medizin, bereits mit 25 Jahren Professor der Philosophie und 1844 Herbarts Nachfolger in Göttingen, wo er bis 1881 wirkte; in demselben Jahre nach Berlin berufen, starb er dort schon nach wenigen Monaten an einer Lungenentzündung. Seine ersten Schriften: Allgemeine Pathologie und Therapie als mechanische Naturwissenschaften (1842), Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens (1851) und Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele (1852), behaupten den durchaus mechanischen Charakter der Physiologie, wie denn bereits sein Artikel Leben und Lebenskraft in Rudolf Wagners Handwörterbuch der Physiologie (1843) dem Vitalismus entgegengetreten war. Aber der Verfasser verweist schon hier darauf, dass er damit noch nicht den Abschluß seiner Gedanken gegeben habe. Eine volkstümliche Darstellung seiner gesamten Weltanschauung, eine Art Ergänzung zu A. Humboldts Kosmos und Herders Ideen, gibt das seinerzeit viel gelesene Hauptwerk Mikrokosmus, Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, 3 Bände 1856-64 (5. Aufl. 1896-1909). Von seinem »System« hat er, abgesehen von einer schon 1841 veröffentlichten Metaphysik nur Drei Bücher Logik (1874) und Drei Bücher Metaphysik (1879) vollendet, dagegen eine geistvolle Geschichte der Ästhetik in Deutschland (1868) geliefert. Nach seinem Tode wurden nach Vorlesungsdiktaten in acht Heften: Grundzüge der Logik und Enzyklopädie der Philosophie (wichtig als Überblick über seine Lehre, 5. Aufl. 1912), Metaphysik, Naturphilosophie, Psychologie (7. Aufl. 1912), Praktische Philosophie, Religionsphilosophie (3. Aufl. 1894), Ästhetik (3. Aufl. 1906) und Geschichte der deutschen Philosophie seit Kant veröffentlicht.

b) Teleologische Metaphysik. Sein heißt: in Beziehungen stehen, Wirkungen austauschen. Das Wesen der Dinge besteht in dem Gesetze ihrer Verbindung und Aufeinanderfolge. Allein wie schon das einzelne »Ding«, d.h. das einheitliche, beharrende Subjekt wechselnder Zustände sich nur denken läßt nach der Analogie unseres mit sich selbst einhelligen Bewußtseins, so erhält der Begriff der Wechselwirkung vieler voneinander völlig unabhängiger Dinge (vgl. Herbart) keinen Abschluß ohne die Annahme eines unendlichen, sie alle umfassenden Wesens als substantiellen. Weltgrundes (Spinoza, Leibniz). Auf dem Gebiete der äußeren Natur gilt auch Lotze der durchgängige mechanische Kausalzusammenhang als notwendige Voraussetzung. Aber die »innere« Natur der Elemente kann nicht mehr rein logisch, sondern nur gefühlsmäßig, unserem eigenen geistigen Wesen, der einzigen uns unmittelbar bekannten Wirklichkeit, gemäß aufgefaßt werden. Alles Reale ist geistig, der letzte Weltgrund absolute Persönlichkeit (so schon Weiße); er enthält den höchsten Zweck der Dinge. Die Welt der Formen ist nur dazu da, dass in ihr das unbedingt Wertvolle, das was sein soll, verwirklicht wird; Grund und Zweck des Wirklichen ist die ewige Liebe.

So geht Lotzes Metaphysik schließlich in Religion und Ethik über. Die mechanische Naturansicht wird seinem »teleologischen Idealismus« durchaus untergeordnet. In der Ethik hängt ihm der Begriff des Guten untrennbar mit dem der Lust zusammen; für soziale Fragen hat er wenig Interesse besessen.

c) Spiritualistische Psychologie. Da die bloße Wechselwirkung physischer Kräfte diejenige Einheit nicht zu erklären vermag, welche selbst die einfachsten Äußerungen seelischen Lebens charakterisiert, so nimmt Lotze eine besondere nichtsinnliche Seelensubstanz an. Die physiologischen Vorgänge geben uns Signale, welche die Seele in ihre eigene Sprache übersetzen muß; sie liefern den höheren Geistestätigkeiten (Erinnerung, Denken, moralisches und ästhetisches Gefühl) den Stoff, mit dem diese selbständig arbeiten. Gegenüber Hegel und Herbart wird mit Recht der grundlegende Wert des Gefühls betont. Für die Raumtheorie ist die Lehre von den rein psychisch gedachten Lokalzeichen bedeutsam. Unsterblichkeit kommt der Einzelseele wie allem Geschaffenen nur zu, insoweit sie »um ihres Wertes und Sinnes willen ein beständiges Glied der Weltordnung sein muß« Die Entscheidung darüber müssen wir einer höheren Hand anvertrauen; wir können uns nur »auf den Glauben zurückziehen, dass jedem Wesen geschehen werde nach seinem Recht«. Auch die Metaphysik schließt in ähnlichem, religiös gefärbtem Skeptizismus mit dem morgenländischen Spruche: »Gott weiß es besser.«

d) Verwandte Denker. Lotze fehlt das Mannhaft-Kraftvolle. Selbst ein so warmer Verehrer wie R. Falckenberg nennt ihn »mehr fein und anziehend als kräftig und groß.« Seine vermittelnde und versöhnende, in manchem an Leibniz, in anderem an Schleiermacher erinnernde Natur hat zwar keine eigentliche Schule gebildet, aber bei verwandten Denkern vielfach Zustimmung und Beifall gefunden. In diesen Kreis gehören Teichmüller (in Dorpat, 1832-88), E. Pfleiderer (in Tübingen, 1842 bis 1902), Busse (1862-1907), von Jetztlebenden namentlich R. Falckenberg (geb. 1851, in Erlangen) und M. Wentscher (geb. 1862, in Bonn). So vertrat Busse in seinem psychologischen Werke Geist und Körper, Seele und Leib (1903, 2. Aufl. von E. Dürr, Leipz. 1913) eine »idealistisch-spiritualistische, die Annahme psychologischer Wechselwirkung einschließende Weltanschauung« Auch Baumann (1837-1916, in Göttingen), G. Thiele (1841 bis 1910) und Siebeck (geb. 1842, in Gießen) seien wegen ihrer Verbindung realistischer und idealistischer Motive an dieser Stelle erwähnt. Gleich Fechners Lehre ist auch diejenige Lotzes in den letzten Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher, besonders Erlanger, Dissertationen gewesen.

 

Literatur: R. Falckenberg, H. Lotze 1. Teil: Leben und Schriften (Klass. d. Phil.) Stuttg. 1905. Umfangreicher M. Wentscher, H. Lotze. Bd I: Lotzes Leben u. Werke 1913. Ed. v. Hartmann, Lotzes Philosophie. Lpz. 1888 (kritisch). Eine Neuausgabe seines ›Systems‹ mit Einleitung usw. hat Misch in der Philos. Bibl. Bd. 141/42 (Lpz. 1911 f.) veröffentlicht. 1. Bd.: Logik. Drei Bücher vom Denken, Untersuchen und Erkennen. 2. Bd.: Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie, Kosmologie und Psychologie. Lotzes heute noch wirkungvollstes Werk, die ›Geschichte der Ästhetik in Deutschland‹ ist im Neudruck (Lpz. 1913, F. Meiner) erschienen.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 13:02:11 •
Seite zuletzt aktualisiert: 31.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright