4. Kant im Ausland


Wir beschränken uns im folgenden auf eine kurze Übersicht, indem wir bezüglich Spaniens, Nordamerikas, Hollands und Schwedens auf die ausführlichen Berichte in Kantstudien I, II, III, VI und VIII, bezüglich der übrigen Länder auf Ueberweg, Band IV - besonders § 66 (Frankreich), § 75 (England), § 91 (Italien) - verweisen. In Kantstudien II und III finden sich außerdem kurze Notizen über belgische, russische, portugiesische, rumänische und - japanische Kantliteratur.

Die um 1860 in Deutschland einsetzende Kantbewegung hatte Parallelerscheinungen in den außerdeutschen Ländern im Gefolge.

a) In Frankreich lehnte sich an Kant namentlich Renouvier (1818-1903) und seine Schule an, freilich nicht, ohne ihn verschiedentlich umzubilden.

Endlichkeit ist ihm der Charakter alles Seins. Das Gesetz der bestimmten Anzahl bestimmt den Begriff des Seins und scheidet ihn von den Willkürlichkeiten der subjektiven Vorstellung. Renouviers Hauptwerk sind die umfangreichen Essais de critique générale, 4 Bde. 1854-64, 2. Aufl. 1875-96. Er gab 1872-89 die Zeitschrift La critique philosophique heraus, an deren Stelle seit 1890 das Jahrbuch L'Année philosophique seines Schülers Pillon getreten ist. Auch der als Lehrer an der Ecole normale besonders einflußreiche Lachelier (1832-1918) ging ursprünglich von Kant aus, später aber zu einer idealistischen Metaphysik über, die sein Schüler Boutroux (1845-1918), Prof. an der Sorbonne, zu einer Philosophie der Freiheit ausgebildet hat. Ins Deutsche übersetzt ist des letzteren Schrift Über den Begriff des Naturgesetzes. Neuerdings suchte man den Kantianismus sogar mit »katholischer« Philosophie zu verbinden; vgl. den ausführlichen Bericht von A. Leclère, Le mouvement catholique Kantien en France à l'heure présente, Kantstudien VII, 300-363. Zur Einführung in das Studium des kritischen Philosophen ist die Darstellung von Ruyssen (Kant, Paris 1900) bestimmt, der auch die neuere französische Philosophie in Ueberweg IV übersichtlich dargestellt hat.

b) In England hatte schon Hamiltons (1788-1856) und seines Anhängers Mansel (1820-71) Lehre von der Relativität der menschlichen Erkenntnis eine gewisse Verwandtschaft mit dem Kritizismus gezeigt. Eingehender hat man sich mit Kant jedoch erst beschäftigt, seit der durch den deutschen Neukantianismus angeregte E. Caird (1835 bis 1908) seine kritische Darstellung der Kantischen Philosophie (1877, erweitert als: The Critical Philosophy of Immanuel Kant, 2 Bde., 1889) erscheinen ließ. Der »kritische Idealismus« von Green und seiner Schule ist mehr ein im Gegensatz zu dem Empirismus und der Assoziationspsychologie entstandener Idealismus schlechtweg.

Auch in Nordamerika wird Kant neuerdings fleißig studiert.

c) In Italien war Kant den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führenden Sensualisten und »Ontologisten« teils kaum bekannt, teils wurde er von ihnen bekämpft. Umsonst versuchte dann Testa (1784 -1860) in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens dem damals übermächtigen Hegelianismus die Kantische Lehre entgegenzustellen. Dagegen begann mit den 70er Jahren, der damaligen politischen Annäherung Italiens an das Deutsche Reich folgend, der Neukantianismus auch in Italien einzudringen. Seine Hauptvertreter waren Cantoni (Pavia, 1840-1906), der eine dreibändige Darstellung der Kantischen Philosophie (Emanuele Kant, Milano 1879 bis 84) veröffentlichte und die in kritizistischem Sinne geleitete Rivista filosofica herausgab, und F. Tocco (1845 bis 1911, Florenz), der auch eine Monographie über Cohen (s. oben S. 424) geschrieben hat. Auch in Rom, Mailand, Neapel und Pavia wirken nach dem Berichte Credaros (Ueberweg IV, § 91) Lehrer der Philosophie, die dem Neukantianismus nahe stehen.

d) Auch in Rußland wurde Kant der Gegenstand zahlreicher Schriften, über die A. Wwedenskij (in Petersburg), der Hauptvertreter dieser Richtung, in den Kantstudien II, 349-352 berichtet hat. Der neukantischen Richtung huldigte der Moskauer Professor Fürst Trubetzkoi (• 1905); auch ein Teil der russischen Sozialisten neigte der letzteren zu, während andere sich an Mach anschlossen. - In Polen, wo um die Wende des 19. Jahrhunderts der Altkantianismus verschiedene Vertreter fand, vertreten neuerdings einzelne Gelehrte einen positivistisch angehauchten Kritizismus. Stärker lehnt sich der Böhme F. Mares (geb. 1857, in Prag) in Erfahrungslehre und Ethik an Kantische Prinzipien an. - In Ungarn, wo ebenfalls 1795-1830 Kantische Philosophie, namentlich Ethik und Religionsphilosophie, gelehrt wurde, machte sich seit 1875 aufs neue eine Art Kantbewegung bemerkbar. 1887 sind Kants Prolegomena, 1892 die Kritik der reinen Vernunft in ungarischer Übersetzung erschienen.

e) Ähnliche Erscheinungen weisen die skandinavischen Länder auf. In Schweden zeigten sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts Boëthius (1750-1810) und Höijer (1767-1812) von Kant beeinflußt, während der spätere rationale Idealismus des lange Zeit einflußreichsten schwedischen Philosophen Boström (1797-1866, Upsala) nur gewisse Grundgedanken mit Kant gemein hat. Von neueren, stehen dem Kritizismus nahe A. Vannérus (geb. 1862), der eine Erneuerung der schwedischen Philosophie im Sinne Kantischer Erkenntniskritik fordert und meint, dass »auch hier Kant sicherlich die Zukunft für sich habe« (Kantstudien VI, 268 f.) und A. Hägerström (geb. 1868, Upsala). - Der verstärkte Einfluß Kants zeigt sich seit Ende der 70er Jahre auch bei verschiedenen Philosophen Dänemarks (Heegaard, Kromann, Wilkens) und Norwegens (Vold).

f) Auch in Holland, das ebenfalls schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Kantianer zählte, hat der Neukantianismus neuerdings vereinzelte Vertreter, wie den Theologen Groenewegen (Leyden), den Juristen J. A. Levy und vor allem Ovink (Utrecht), gefunden. B. van Loen gab eine holländische Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft und der Prolegomena heraus. Der angesehenste unter den holländischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Opzoomer (1821-92), war ein geistreicher Eklektiker. In Belgien hielt Dwelshauvers Vorlesungen über Kant an der »freien Universität« zu Brüssel.

g) Selbst auf der Pyrenäischen Halbinsel ist Kant nicht unbekannt. Freilich kann man von einer »Kantbewegung« in Spanien nicht reden. Bis zu der von einem Kubaner Perojo, der 1873-75 in Heidelberg studierte, verfaßten Übersetzung eines Teiles der Kritik der reinen Vernunft (der »transzendentalen Analytik«) kannte man den deutschen Philosophen überhaupt nur aus französischen Übersetzungen oder Übertragungen aus dem Französischen. Dagegen haben sich neuerdings mehrere jüngere spanische Gelehrte, die in Marburg studierten, wie Professor Ortega, dem Neukantianismus angeschlossen. - In Portugal wurde er (nach Kantst. III, 480) um 1900 durch den Rechtsphilosophen Ferreira vertreten, neuerdings ebenfalls durch mehrere Neukantianer.

h) Endlich ist Kant auch in den fernsten Osten gedrungen. In Japan veröffentlichte Professor Kiyono 1896 den ersten Band eines - Kommentars zu Kants Kritik der reinen Vernunft, und während des Weltkrieges haben die Professoren Hatano und Miyamoto Kants Kritik der praktischen Vernunft herausgegeben!


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