1. Stirner


Max Stirner, eigentlich Kaspar Schmidt, geboren 1806 in Bayreuth, studierte, vorzugsweise in Berlin, Philosophie und Philologie, bewarb sich vergebens um eine staatliche Stellung, war eine Zeitlang Lehrer an einer höheren Privatmädchenschule in Berlin und verkehrte hier mit dem. Kreis der »Freien« (Bruno Bauer u. a.), aus dem sein oben genanntes Hauptwerk (Ende 1844) hervorwuchs. Seitdem hat er nichts von Bedeutung mehr geschrieben. Er starb 1856 verschollen und in größter Dürftigkeit.

Nicht dies unscheinbar verlaufene Leben kennzeichnet Stirner, sondern eine in dieser Kühnheit vor ihm vielleicht nie oder nur von einzelnen griechischen Sophisten verkündete Lehre. Stirner knüpft zwar an die Junghegelianer Bruno Bauer und Feuerbach an, aber nur, um über sie hinauszugehen. Er will nicht die Sache Gottes, nicht die der Menschheit oder des Vaterlandes vertreten, ja nicht einmal die Sache »des« Menschen, in dem Feuerbach das höchste Wesen erkannt, den Bruno Bauer überhaupt erst gefunden zu haben meinte, sondern lediglich seine eigene: »Mir geht nichts über Mich!« (NB. Ich, Mir, Mich usw. wird stets mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben!) Weder die »Alten« (das Altertum) noch die »Neuen« (das Christentum) befriedigen ihn: der sogenannte »Geist« ist eine Lüge, ein Spuk, ein Sparren, ebenso der Beruf, die Wahrhaftigkeit, die Liebe; Sittlichkeit ist Borniertheit. Er will auch keine Hierarchie des Geistes, kein »Pfaffentum der Idee«. Ja selbst die Freien, die Neuesten unter den Neuen, genügen ihm nicht: weder der politische Liberalismus der Bourgeoisie, der nur die Besitzenden privilegiert, die Nichtbesitzenden dagegen aussaugt, noch der soziale der Kommunisten, der alle zu besitzlosen »Lumpen« statt, wie es richtig wäre, zu »Egoisten« macht, noch endlich der humane der neuesten Kritiker, der gänzlich uninteressiertes Handeln des einzelnen verlangt. Sie alle, auch »der Mensch« Feuerbachs und Bauers, sind Feinde des Egoismus, des vergänglichen, wirklichen, endlichen Einzel-Ich.

Handelte der erste, kritische Teil des Buches vom Menschen, so trägt der zweite die kurze Überschrift: Ich. Nicht bloß das Jenseits außer Uns, sondern auch das Jenseits in Uns muß zerstört werden. Nicht Freiheit ist das erstrebenswerte Ziel - der »Freie« ist im Grunde nur der Freiheitssüchtige -, sondern Eigenheit; der »Eigene« ist der geborene Freie. Das Gewissen macht zum Schwächling. Suchet Euch selbst, werdet Egoisten, laßt Euere törichte Sucht, etwas anderes zu sein, als Ihr seid! Nehmt Euch die Freiheit selbst, anstatt sie zu verlangen oder sie Euch schenken zu lassen! Betragt Euch als Mündige, als Freie! Auch das »Recht« ist nur »ein Sparren, erteilt von einem Spuk«. Ich bin zu allem berechtigt, was Ich vermag. Ich kenne keine Pflicht und kein Gesetz. An die Stelle des Staates muß ein »Verein von Egoisten« treten, in dem jeder tut, was er will. Dass darum nicht alles drunter und drüber geht, dafür wird jedes einzelne Ich schon sorgen, indem es sich nichts gefallen läßt. Alles »Heilige« ist ein Band, eine Fessel. Weg mit der Familie, dem Volke, der Partei, der Strafe, weg auch mit dem neuen Ideal des »freien Menschen«! Die »Eigenheit« kennt kein Gebot der Treue, Anhänglichkeit, Sittlichkeit. - Auch in der Frage des Eigentums geht Stirner über die bisher Radikalsten (Babeuf, Proudhon, Weitling) weit hinaus. Ich bin zu jedem Eigentum berechtigt, zu dem Ich Mich ermächtige. Greife zu und nimm, was Du brauchst; das ist nicht verächtlich, sondern »die reine Tat des mit sich einigen Egoisten«! Dein Vermögen ist, was Du vermagst. Liebe ist gewiß schön, aber sie darf nicht zum Gebot erhoben werden, sondern ist, wie jedes meiner Gefühle, mein Eigentum. Unzähliges, selbst mein Leben und meine Freiheit, will Ich dem Anderen mit Freuden opfern, nur nicht Mich selbst. Ich liebe die Menschen, weil es Mich glücklich macht. Auch vor Lüge und Eidbruch wird der Eigene im gegebenen Falle nicht zurückschrecken. Wie Luther sein Mönchsgelübde um »Gottes«, um der »höheren« Wahrheit willen brach, so tue Ich es um »Meinetwillen«: was natürlich etwas ganz anderes ist als um des Gewinnes willen; denn der Sklave des Gewinnes, des Geldsacks ist nicht mehr »sein« eigen. [Was bedeutet hier »Ich«, »Mein«, »eigen«?] Trachten wir nicht nach Gemeinschaft, selbst nicht nach der umfassendsten, der »menschlichen Gesellschaft«, sondern nach der »Einseitigkeitü! Nur im losen »Verein« kann sich der Eigene behaupten und seine ganze Kraft geltend machen. Keine Revolution, die auf Änderung der politischen oder sozialen Einrichtungen geht, sondern »Empörung«, d.h. Emporrichtung des Individuums, das sich überhaupt nicht mehr »einürichten lassen will! Cäsar war ein Revolutionär, der noch von der Änderung der Zustände das Heil erwartete, Christus dagegen und seine ältesten Anhänger die wahren »Empörer«, die ungestört von der Obrigkeit ihren eigenen Weg wandeln wollten und gerade deshalb, weil sie das Umwerfen des Bestehenden von sich wiesen, seine wirksamsten Vernichter wurden. Mein Verkehr mit der Welt besteht darin, dass Ich sie und in ihr Mich selbst genieße. Nichts von Beruf, Bestimmung, Aufgabe, Ideal! Bange nicht um das Leben, grübele nicht darüber, sondern genieße es! Nicht »der Mensch« ist, sondern Ich bin das Maß aller Dinge, keinem dienstbar als meiner eigenen Kritik. Ja, Ich kann die mir liebsten Gedanken im nächsten Augenblicke von mir werfen und bleibe doch, der Ich bin, schaffe neue Gedanken, denn Ich bin ihr alleiniger Eigner. Wir sind allzumal vollkommen, es gibt keinen Sünder: wie denn die Worte »gut« und »böse« für den Eigner keinen Sinn haben. Alles an Mir ist - einzig, Ich bin - der Einzige. Nur auf Mich selbst, den Einzigen, den sich selbst verzehrenden, vergänglichen Schöpfer seiner selbst, stelle Ich meine Sache, und so lautet Anfang und Schluß Meiner Weisheit (und des Stirnerschen Buches): »Ich hab' Mein' Sach' auf Nichts gestellt

 

Literatur: J. H. Mackay, Max Stirner, sein Leben und sein Werk, 1898, 2. Aufl. 1910. Von Mackay rührt auch eine Ausgabe von Stirnen (unbedeutenden) kleineren Schriften her. Das Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« (Leipzig 1845, 3. Aufl. 1900) ist seit 1892 auch bei Reclam erschienen.


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