IV. Kritische Nebenströmungen in und neben dem Marxismus
Zwar hat, wenigstens in Deutschland, gegenwärtig die marxistische Lehre alle anderen sozialistischen Theorien in den Hintergrund gedrängt. Dennoch waren neben dem Marxismus von jeher und sind neuerdings auch innerhalb desselben kritische Nebenströmungen vorhanden.
1. So schließt sich der bekannte Ferdinand Lassalle (1825-64) zwar in seinen ökonomischen Lehren im allgemeinen an Marx an (ohne ihn zu nennen), ist aber mehr Staatssozialist als dieser. Für die Philosophie kommt außer seinem hegelianisierenden Erstlingswerk über Heraklit (s. Bd. I, S. 33) vor allem sein Hauptwerk Das System der erworbenen Rechte (2 Bände 1861, 2. Aufl. herausg. von Lothar Bücher 1880) in Betracht. Es führt den Grundgedanken aus, dass alle juristischen Begriffe (wie Eigentum, Vertrag, Familie, Erbrecht usw.) nicht sowohl logische als historische Kategorien seien; zur wissenschaftlichen Begründung des Sozialismus trägt indes diese Rechtsphilosophie Lassalles wenig bei. In seinem stürmischen ethischen Idealismus Fichte verwandt, bleibt er theoretisch doch im wesentlichen Hegelianer. Von Lassalles Reden und Schriften (herausg. von E. Bernstein, 3 Bände, 1891-94) heben wir als mehr philosophisch besonders die Gedächtnisrede über Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes und die »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« (1863) hervor.
2. Interessant ist der außerhalb der sozialistischen Kreise wenig bekannte Versuch des philosophischen Gerbers Josef Dietzgen (1828-88): Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit (1869, mit Einleitung von A. Pannekoek 1903), weil er bereits - wenn auch zuweilen unter eigenartiger Terminologie - wesentliche erkenntniskritische Gesichtspunkte bringt. Er hat eingesehen, dass Lehren nur dadurch zu Wissenschaften werden, wenn sie »die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzuführen streben«, und rühmt Kant, weil er mit der Erkenntniskritik beginne; auch in der Ethik nähert er sich Kants kategorischem Imperativ, dem er freilich eine empiristische Färbung gibt. Erläuterungen der Hauptschrift gaben Dietzgens spätere Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie (1887); weniger methodisch gehalten sind Das Acquisit der Philosophie und die Briefe über Logik (1895). Neuerdings sucht sein Sohn Eugen Dietzgen, der auch eine Gesamtausgabe von seines Vaters Schriften (3 Bde., Wiesbaden 1911) herausgegeben hat, in Verbindung mit einigen amerikanischen Parteigenossen den »erkenntnistheoretisch rückständigen« »Engmarxismus« von Kautsky, Plechanow, Mehring u. a. durch dessen Erweiterung in erkenntniskritischer, ethischer, naturwissenschaftlicher und »weltgeschichtlicher« Hinsicht zu korrigieren und ergänzen.
3. Erst gegen Ende des Jahrhunderts entstand innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus eine kritische Richtung, die von einer rein historisch- ökonomischen Begründung des Sozialismus abzulenken suchte. Ihr literarischer Hauptvertreter war Eduard Bernstein (geb. 1850), dessen Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie (1899, jetzt in 13. Aufl.) nebst seiner Broschüre: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich? (1901) lebhafte Diskussionen nicht nur innerhalb seiner Partei, sondern auch in anderen sozialphilosophisch interessierten Kreisen hervorrief. In der richtigen Empfindung, dass dem Marxismus bisher noch die bewußte und methodische Berücksichtigung des ethischen Moments sowie eine tiefere erkenntniskritische Begründung fehle, verlangte der frühere orthodoxe Marxist Bernstein eine stärkere Betonung der »ideologischen« Elemente und faßte seine Tendenz schließlich in dem Ruf: Zurück auf Kant! Zurück auf F. A. Lange! zusammen. Allein dieser »Kritizismus« wurde von ihm nicht, wie von Staudinger (S. Gunter), M. Adler, K. Vorländer und anderen, folgerichtig durchgeführt. Das Organ der »revisionistischen« Richtung in Deutschland sind die Sozialistischen Monatshefte; außerdem gab Bernstein mehrere Jahre hindurch eine historisch-bibliographische Monatsschrift Dokumente des Sozialismus heraus.
Philosophisch durchgebildeter als Bernstein, vertrat Ludwig Woltmann (1871-1907), den wir bereits (S. 398) als Darwinisten kennen gelernt haben, in seinem System des moralischen Bewußtseins 1898, wie in seinem zu Anfang dieses Paragraphen zitierten Buche Der historische Materialismus, Darstellung und Kritik der marxistischen Weltanschauung, eine eigenartige Synthese von Kant, Marx und Darwin. Kants Philosophie biete die »logischen Mittel«, um eine systematische Kritik des Marxismus herbeizuführen. Ihre kritische Methode ergänze die genetische von Darwin und Marx, in welchem letzteren Woltmann den Kritizismus schon im Keime enthalten sieht. Später wandte sich Woltmann, vom Sozialismus abweichend, mehr anthropologisch-sozialen Problemen, insbesondere der Rassenfrage, zu.
Von ausländischen Sozialisten heben wir als Anhänger einer die ideologischen Momente stärker betonenden, zum Teil ebenfalls dem Kritizismus nahe stehenden Richtung hervor: die Franzosen Jean Jaurès (ermordet 1914) und Chr. Rappoport, die Russen Lawrow (1823 bis 1900) und P. v. Struve (der später zum Liberalismus überging), sowie aus neuerer Zeit besonders den Soziologen M. Tugan-Baranowsky, der auch eine russische Übersetzung meiner sozialphilosophischen Aufsätze (1909) herausgegeben hat (seine Werke s. S. 451). Später traten, namentlich in Österreich, mehrere jüngere Sozialisten energisch für eine philosophische Vertiefung des Marxismus durch Kants erkenntniskritische Methode ein, so Max Adler (geb. 1873, Wien, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft in Bd. I der Marx-Studien, Wien 1904, Marx als Denker, Berlin 1908, Marxistische Probleme, Stuttg. 1913) und Otto Bauer (in mehreren Aufsätzen in der Neuen Zeit); während andere (wie Friedrich Adler) in Machs Philosophie eine geeignetere erkenntnistheoretische Unterlage gefunden zu haben meinen.
Infolge des Weltkrieges und der seine Folgeerscheinung bildenden russischen, österreichischen und deutschen Revolution, an denen überall die genannten Denker mehr oder weniger beteiligt sind, sind jedoch alle diese theoretischen Erörterungen vorläufig in den Hintergrund getreten.