c) Naturphilosophie, Sprachphilosophie


6. Auch eine metaphysisch gerichtete Naturphilosophie ist neuerdings wieder aufgetreten. Nachdem Helmholtz es für das Endziel der Naturwissenschaft erklärt hatte, alle elementaren Naturkräfte in Bewegungskräfte, »also sich selbst in Mechanik aufzulösen«, und Du Bois-Reymond (1818-96) in Übereinstimmung damit in seinen beiden Vorträgen Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) und Die sieben Welträtsel (1882) Naturerkennen als »Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen« definiert, gegenüber gewissen letzten Problemen aber wie dem Wesen von Materie und Kraft, dem Ursprung der Bewegung, der Entstehung der Sinnesempfindungen sein skeptisches: »Ignorabimus!« ausgesprochen hatte, schien eine Zeitlang der alte Vitalismus endgültig überwunden zu sein. Aber seitdem sind Monismus und Zellentheorie durch Bakteriologie und Elektronenlehre überholt worden, man beginnt der mechanischen Weltanschauung auch in den Kreisen der Naturforscher allmählich untreu zu werden.

So hat zunächst nach dem Vorgang von Bunge (geb. 1844, in Basel, Vitalismus und Mechanismus, 1886, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 2. Aufl. 1905) ein Neu-Vitalismus wieder sein Haupt erhoben, der zur Erklärung der organischen Natur eine besondere »Lebenskraft« für notwendig hält und überhaupt »von dem Bekannten, von der Innenwelt ausgehen« will, um »das Unbekannte, die Außenwelt« zu erklären. Neuerdings hat sich als Wortführer dieser Richtung namentlich Hans Driesch (Heidelberg, geb. 1867, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, 1905) bekannt gemacht, der mit seiner Annahme einer selbständig wirkenden »Entelechie« nicht bloß dem Namen, sondern auch der Sache nach an Aristoteles erinnert (Naturbegriffe und Natururteile, 1904, Philosophie des Organischen, 2 Bde., 1909) und in seiner logisch gerichteten Ordnungslehre, 1912, ein »System des nicht-metaphysischen Teiles der Philosophie« entworfen hat. Weiter steht P. N. Cossmann (München, Elemente der empirischen Teleologie, Stuttgart 1898) dem Vitalismus nahe. Noch teleologischer als er, nimmt Reinke (geb. 1849, Professor der Botanik in Kiel, Die Welt als Tat, 1899, 5. Aufl. 1908, Theoretische Biologie, 1911) für die organische Natur neben dem - für die anorganische Natur unbeschränkt geltenden - Kausalgesetze noch zweck- und zielbewußte Energielenker (»Dominanten«) an, deren letzter Grund eine schöpferische Intelligenz, d.h. Gott, ist. Gegenüber dem von Haeckel (• Aug. 1919) und seinen Anhängern mit Begeisterung vertretenen »Monismus«, hat sich 1907 unter der Förderung von Reinke u. a. ein »Kepler-Bund« gebildet, der die Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Christentum auf seine Fahne geschrieben hat. Jüngere und moderner denkende Vitalisten scharen sich um die von R. H. Francé, dem bekannten Verfasser des Leben der Pflanze (1905-08), geleitete Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre und huldigt einem, namentlich von Adolf Wagner (Innsbruck, Der neue Kurs in der Biologie, 1907, Geschichte des Lamarckismus, 1909) verfochtenen »Neu-Lamarckismus« oder Psycho-Vitalismus, dessen philosophische Gewährsmänner jedoch die im letzten Grunde ja gleichfalls schon ›vitalistischen‹ Schopenhauer, Fechner und E. von Hartmann sind. Seit 1919 erscheint eine neue Zeitschrift: Abhandlungen zur theoretischen Biologie, hrsg. von J. Schaxel (Jena).

Wieder anderer Art ist die Energetik, wie sie W. Ostwald (geb. 1853, bis 1906 Professor der physikalischen Chemie in Leipzig, seitdem in seinem Landhaus Energie lebend) in der von ihm begründeten und seit 1913 von R. Goldscheid (S. 498) mitgeleiteten Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie vertritt. Er glaubt »die alten Schwierigkeiten, welche der Vereinigung der Begriffe Materie und Geist sich entgegenstellen, durch die Unterordnung beider unter den Begriff der Energie aufheben« zu können. Energie bedeutet: »Arbeit und alles, was aus Arbeit entsteht und in sie verwandelt werden kann.« Sie tritt in verschiedenen Gestalten, als mechanische, Wärme-, elektrische, chemische, strahlende und magnetische Energie auf. Ihnen entspricht auf dem Gebiet des Bewußtseins die Nervenenergie, die z.B. in der »Aufmerksamkeit« gesammelt, in der »Erschöpfung« zerstreut erscheint, und die Willensenergie, deren Betätigung die Grundlage unseres Glückes bildet. »Vergeude keine Energie, sondern verwerte sie«, lautet der energetische Imperativ. Sie entsteht aus anderen Formen, z.B. aus der chemischen, durch Umformung und geht nach dem Ablauf des psychischen Prozesses auch wieder in andere Formen über. Bei allen diesen Umwandlungen erhält sich die Gesamtmenge der Energie in der Welt unverändert (wie das Gesetz der Erhaltung der Kraft von R. Mayer). Vgl. auch den von Ostwald verfaßten Abschnitt Naturphilosophie in Teubners Kultur der Gegenwart, den populären Grundriß der Naturphilosophie (bei Reclam, 1908), sowie sein Buch Vom energetischen Imperativ (1912). An Stelle der nach seiner eigenen Erklärung jetzt veralteten Vorlesungen über Naturphilosophie (1902) soll jetzt ein neues Werk Moderne Naturphilosophie treten, von dem jedoch bisher erst ein erster Die Ordnungswissenschaften, d.h. Logik und Mathematik, behandelnder Teil (1914) erschienen ist.

Natürlich stehen dem Vitalismus in seinen verschiedenen Arten unter den exakten Forschern zahlreiche Verteidiger des ›Mechanismus‹ gegenüber. Wir nennen nur den Anatomen Wilhelm Roux (geb. 1865, in Halle) mit seiner Entwicklungsmechanik, 1905, für die auch ein besonderes Archiv (40 Bände) existiert. Roux nimmt eine durch mechanische Faktoren, wie Kampf und Anpassung der einzelnen Elemente, bedingte Entwicklung des Organismus an. Vgl. auch Die Selbstregulation, Lpz. 1914 und Terminologie der Entwicklungsmechanik, ferner Über kausale und konditionale Weltanschauung, Lpz. 1913. Uns scheint die philosophische Lösung jener »Schwierigkeiten« in einem allen Dualismus von Psychischem und Physischem endgültig verbannenden erkenntniskritischen Monismus zu liegen, dem von den Naturforschern trotz seines Empirismus E. Mach (S. 484 f.) nahe steht. Verwandt damit sind der »Psychomonismus« Verworns und der ähnliche Standpunkt Ziehens (oben S. 481), sowie der von H. Kleinpeter (• 1916) und H. Cornelius (S. 484). Auch Th. Lipps in seinem zu Anfang dieses Paragraphen erwähnten Beitrag faßt die Naturphilosophie als die zur Selbsterkenntnis gekommene Naturwissenschaft auf. Für die Physik bedeutsam ist A. Einsteins Formale Grundlage der allgem. Relativitätstheorie, Lpz. 1914.

7. Als Religionsphilosophen haben wir die vom Neukantianismus berührten Theologen Herrmann, Kaftan, Ritschl, Lipsius sowie die Philosophen Cohen, Eucken, Natorp, Seydel, W. Wundt und Th. Ziegler bereits früher namhaft gemacht. Hier seien noch hinzugefügt: die Theologen O. Pfleiderer (1839-1908, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, 1878, 3. Aufl. 1894), A. Harnack (Das Wesen des Christentums 1900) und neuerdings E. Troeltsch (geb. 1865, Berlin), die Philosophen Baumann (S. 409, Die Grundfrage der Religion, 1895), W. Bender (1845-1901, in Bonn, früher protestantischer Theologe, Das Wesen der Religion, 4. Aufl. 1888), Ed. von Hartmann (Religionsphilosophie, 1888), Siebeck (Lehrbuch der Religionsphilosophie, 1893) und Raoul Richter (Religionsphilosophie, 1912). Seit 1914 erscheint in Tübingen ein besonderes Archiv für Religionspsychologie. Den deutsch-englischen Sprach- und Religionsphilosophen F. Max Müller s. unter England (unten S. 506).

8. Mit Sprachphilosophie endlich haben sich unter den Neueren, außer dem soeben erwähnten F. M. Müller und dem S. 342 genannten Steinthal (Abriß der Sprachwissenschaft, 1871, 2. Aufl. 1881, Ursprung der Sprache, 4. Aufl. 1888), eingehend beschäftigt: H. Paul (Prinzipien der Sprachgeschichte, 1880, 4. Aufl. 1909), F. Mauthner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., 1901/02, 2. Aufl. 1906-12, Philos. Wörterbuch, 2 Bde. 1910 f.), der eine Art von »linguistischem Skeptizismus« vertritt, indem ihm die »objektive Wahrheit« mit dem »gemeinsamen Sprachgebrauch« zusammenfällt, endlich W. Wundt in Bd. I und II seiner Völkerpsychologie: Die Sprache, 3. Aufl. 1911 f.


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