a) Schriftstellerische Entwicklung


Hermann Cohen, geb. 1842, Herbst 1873 Privatdozent, nach Langes Tode 1676 ordentlicher Professor der Philosophie in Marburg, seit Herbst 1912 in Berlin lebend, wo er am 4. April 1918 starb. Er ist nie, wie man bisweilen liest, ein Anhänger oder gar Schüler Langes gewesen, sondern hat sich vollkommen selbständig zum Neukantianer entwickelt; im Gegenteil, Lange steht in der zweiten Auflage seines Hauptwerks, wie er selbst ausdrücklich erklärt, hinsichtlich der Auffassung Kants unter dem Einflusse des jüngeren Kollegen. Ebensowenig war Cohen der Kantphilologe, als den man ihn anfangs nahm, weil sein erstes Werk: Kants Theorie der Erfahrung (1871) die Forderung aufstellte, daß, wer über Kant urteilen wolle, sich vor allem erst einmal den historischen, urkundlich vorhandenen Kant zu eigen machen müsse, und dass der letztere zu diesem Zwecke »mit philologischer Genauigkeit« zu behandeln sei. Vielmehr schwebte ihm von Anfang an eine Verbindung der historisch- philologischen Aufgabe mit dem systematischen Gesichtspunkt, eine Weiterbildung von Kants System, eine Neubegründung des Kritizismus vor. Das macht sich bei jedem folgenden Werke in steigendem Maße geltend. Schon das nächste Buch: Kants Begründung der Ethik (1877) redet von einer »Auslegung« der Kantischen Lehre, von einer zwar »gemäß der kritischen Methode und im Anschluß an Kants Worte« erfolgenden, aber »selbständigen Behandlung der philosophischen Probleme« Kants Philosophie bedeutet ihm: Philosophie als Wissenschaft, Kants Begründung die erkenntnistheoretische Begründung der Ethik, in die deshalb als erster Teil die bei Kant der theoretischen Philosophie angehörige Ideenlehre einbezogen wird. Die zweite Auflage von Kants Theorie der Erfahrung (1885) bringt sodann eine einschneidende Neubearbeitung der Kantischen Erfahrungslehre. Vor allem wird noch entschiedener die Einheit des Bewußtseins als die Einheit der Grundsätze geltend gemacht und als Kern der letzteren, im Anschluß an die kurz vorher erschienene kleinere Schrift über Das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883), der Grundsatz der intensiven Größe hervorgehoben. Nachdem so die beiden ersten Teile des Kantischen Systems, Erfahrungslehre und Ethik, bearbeitet waren, brachte das dritte Werk, Kants Begründung der Ästhetik (1889), eine mit reichen eigenen Ausführungen ausgestaltete Begründung der Ästhetik in und aus dem Systeme der kritischen Philosophie, mit klärenden systematischen Rückbeziehungen auf jene beiden ersten Erzeugungsweisen des Bewußtseins. Und ganz »frei von dogmatischer Abhängigkeit« prüfte die Einleitung mit kritischem Nachtrag zu F. A. Langes Geschichte des Materialismus in fünfter Auflage (1896) das Verhältnis der Logik zur Physik und das der Ethik zur Religion und Politik; wozu die 1902 erschienene siebente Auflage noch zwei Abschnitte über »das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte« und »das Verhältnis der Psychologie zur Metaphysik« fügte. Diejenigen aber, die trotz alledem Cohen noch vorzugsweise als Kant-Interpreten auffaßten erhielten endgültige Aufklärung durch den ersten Teil seines Systems der Philosophie (Berlin 1902), der in seinem Sondertitel Logik der reinen Erkenntnis zum erstenmal auch äußerlich den Namen Kants abwarf und, wenngleich unter Anlehnung an die kritische Methode, ein eigenes systematisches Lehrgebäude errichtete.


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Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
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