3. Friedrich Nietzsche


Aus der von Jahr zu Jahr mehr anschwellenden Nietzsche-Literatur (das meiste bringt Ueberweg IV, § 49) seien von zusammenfassenden Gesamtschilderungen hervorgehoben: A. Riehl, Fr. Nietzsche, der Künstler und der Denker (Klass. d. Philos. VI) 1897, 5. Aufl. 1909; ferner die einen klaren Überblick über die verschiedenen sich in Nietzsche kreuzenden Tendenzen gebende kleine Schrift von H. Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, 3. Aufl. 1905; weiter H. Lichtenberger, La philosophie de Fr. Nietzsche, 1898, ins Deutsche übersetzt und eingeleitet von Nietzsches Schwester, Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, 1899, 3. Aufl. 1905. Th. Ziegler, F. Nietzsche, 1899. R. Richter, F. Nietzsche, sein Leben und sein Werk, 3. Aufl. 1917. K. Joël, Nietzsche und die Romantik, 1903. Seillière, Apollo oder Dionysos?, übersetzt, Berlin 1906. Richard M. Meyer, N., s. Leben u. s. Werke 1913. Ein klares Bild seines Wesens und besonders seiner Jugendentwicklung empfängt man aus seines Jugendfreundes P. Deussen ›Erinnerungen an F. Nietzsche‹, Lpz. 1901. Reiches Material aus bisher ungedruckten Dokumenten bringt das im ganzen gegnerisch gehaltene Werk von C. A. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. 2 Bde., Jena 1908. Empfehlenswert zur Lektüre des Zarathustra wie zum Verständnis Nietzsches überhaupt: H. Weichelt, ›Also sprach Zarathustra‹, erklärt und gewürdigt. Lpz. 1910. Die große 19 bändige Gesamtausgabe von Nietzsches Werken (1905 ff.) enthält in ihrer 1. Abteilung seine zusammenhängenden Werke (8 Bände), in der 2. (ebenfalls 8 Bände, dann 3 philologischen Inhalts) Schriften, Fragmente, Entwürfe, Aphorismen u. a. aus dem im Nietzsche-Archiv zu Weimar von seiner Schwester treu aufbewahrten Nachlaß. Die letztere hat ihm eine liebevolle, ins einzelne gehende Biographie gewidmet: Das Leben Fr. Nietzsches, 1. Band 1895, 2. Band 1897 ff. Jetzt in kürzerer Bearbeitung: Der junge Nietzsche, Lpz. 1912. Der einsame Nietzsche, 1914. - Gesammelte Briefe, hrsg. von P. Gast (Pseudonym für Heinrich Köselitz) und E. Förster-Nietzsche, 4 Bände 1900-1905. Die 1. Abteilung der Werke ist auch in kleinerem Format zu billigerem Preise Lpz. 1899 erschienen, daneben neuerdings in einer dritten, noch billigeren, sogenannten »Taschenausgabe«, bis 1913 11 Bände. Das Nietzsche-Archiv wurde bis 1908 von seiner Schwester und wird seitdem von einem Kuratorium verwaltet.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), thüringischer Pfarrerssohn, früh ohne Vater, in Schulpforta erzogen, in Bonn und Leipzig Schüler des Philologen Ritschl, schon mit 24 Jahren Professor der klassischen Philologie zu Basel, muß 1878 wegen einer beginnenden schweren (Gehirn-?) Krankheit seine Stellung aufgeben und bringt von da an, als »irrender Flüchtling« und einsam Leidender, seine Sommer meist im Engadin, die Winter an der Riviera zu. In den Krankheitspausen erzeugt sein leidenschaftlich bewegter Geist jetzt ein Werk nach dem anderen, fast alle bezeichnenderweise in Aphorismen geschrieben. Seit 1889 in unheilbare Geisteskrankheit verfallen, lebt er bei seiner Mutter in Naumburg, nach deren Tode bei seiner verwitweten Schwester in Weimar, wo ihn am 25. August 1900 der Tod von seinen Leiden erlöst.

Nietzsche spiegelt in seinem ruhelosen Sehnen und Suchen unsere gärende Zeit wider. Von beinahe sämtlichen literarischen, philosophischen und künstlerischen Strömungen der Gegenwart läßt er sich ergreifen, um sich schließlich von allen loszureißen. Es lassen sich drei Stadien seiner Entwicklung unterscheiden:

a) Schopenhauer-Wagnersche Periode. Nietzsches erstes bedeutenderes Werk: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) will Schopenhauer und Richard Wagner mit Äschylus zu einem in Wahrheit »zentaurischen« Ganzen vereinen, das nur durch die gemeinsame ästhetische Weltanschauung zusammengehalten wird: die ganze Welt ist nur um der Kunst willen von dem Ur-Einen geschaffen. Zwei gewaltige Kunsttriebe herrschen in der Natur und den Werken echter Kunst: der dionysisch-orgiastische des Musikers und Tragöden und der apollinisch-heitere, maßvolle des Bildners und epischen Dichters. Der erstere, der »Geist der Musik«, aus dem die Tragödie entspringt, ist der dem Verfasser kongenialere: aus ihm sieht er eine neue Kultur entstehen, ruhend auf der »tragischen Erkenntnis« des Lebens, die dem künstlerischen Genius eigen ist.

Aus diesem Standpunkt gehen dann weiter die vier Stücke Unzeitgemäßer Betrachtungen (1873-76) hervor: die zwei ersten Streitschriften gegen den »Bildungsphilister« D. Fr. Strauß und gegen das Übermaß des Geschichtlichen in der modernen Erziehung (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben), während die zwei späteren, Schopenhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth, das neue Ideal im Anschluß an ihre Vorbilder positiv entwickeln. Persönliche Erfahrungen mit R. Wagner sowie dessen mittelalterlich-christlicher Parsifal bewirken einen entschiedenen Bruch. Ein völlig anderes Gesicht zeigt Nietzsches

b) Positivistisch-rationalistische Periode. Das sie charakterisierende Hauptwerk Menschliches Allzumenschliches (3 Bände, 1878-80)*) bezeichnet sich als ein »Buch für freie Geister« zum Andenken Voltaires an dessen hundertjährigem Todestag. An die Stelle des schönheitstrunkenen Dionysos tritt jetzt die hoheitvolle, ruhig-klare Göttin Athene, ja sogar der vor wenigen Jahren noch aufs schärfste verspottete nüchtern-moralische Sokrates, das Prototyp der Aufklärung. Der künstlerische Mensch heißt nunmehr ein »an sich schon zurückbleibendes Wesen«: er muß sich weiter entwickeln zum wissenschaftlichen Menschen. Denn die Künstler sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrtümer der Menschheit. Höchster Kultur- und Lebenszweck ist für Nietzsche jetzt nicht mehr die Kunst, sondern die Erkenntnis. Erhebung, Beruhigung, Aufhellung der Gedanken sind es, welche die »Dreifaltigkeit der Freude« bewirken. Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Darwinismus, also die »Historie« zieht ihn an. In der Moral neigt er dem utilitarischen und zugleich dem Vernunftprinzip zu. Ähnlich heißt es noch in der Morgenröte (1881): Nicht dem Gefühl, sondern der Vernunft und Erfahrung vertraue!

Aber die wissenschaftliche Betrachtungsweise kann seiner leidenschaftlichen Feuernatur auf die Dauer nicht genügen. Ein neuer Nietzsche, der sich in der eben genannten Schrift erst leise ankündigt, kommt zum Durchbruch in Die fröhliche Wissenschaft (1882) und tritt voll hervor in seiner dritten, der c) Zarathustra-Periode, die in erster Linie durch sein berühmtestes und eigenartigstes Werk: Also sprach Zarathustra (1883-85) gekennzeichnet wird. Daneben stehen: Jenseits von Gut und Böse (1886), Zur Genealogie der Moral (1887), Der Fall Wagner (1888), Die Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert (1888). Von dem geplanten Hauptwerk: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte, war 1888 nur das erste Buch: Der Antichrist vollendet, das übrige ist in der Gestalt, in der es in seinem Nachlaß vorlag - neuerdings (1908 f.) zusammen mit der selbstbiographischen Skizze Ecce homo oder: Wie man wird, was man ist -, als Band XV und XVI der S. W. erschienen.

In dieser dritten, in der Ausdrucksweise bereits die Zeichen der beginnenden Krankheit verratenden Periode kehrt Nietzsche zu seiner ersten (Schopenhauerschen) Epoche zurück, aber bereichert durch die Ergebnisse der zweiten. Der wahre Mensch ist Freigeist und Künstler zugleich: Freigeist, insofern er - wie die Aufklärung - alle bisherige Geschichte verneint, Künstler (Schaffender, Tatmensch), insofern er einen neuen, erhöhten Typus des Menschen schaffen will: den Übermenschen.**) Hier erst tritt der Philosoph des Individualismus voll hervor, aber in ganz anderer Weise als bei Stirner, auf den Nietzsche nirgends hinweist, obwohl er ihn gekannt hat. Das höchste Ziel der Kultur ist die Züchtung großer genialer Menschen. Die Schopenhauersche Willensmetaphysik erscheint wieder, aber unter dem Einflusse der Darwinschen Selektionslehre positiv-optimistisch gewandt. An die Stelle des weltverneinenden »Anachoreten und Heiligen« tritt der »dionysische« Genius und Held, der sich gerade durch die Kämpfe und Widersprüche, das Leid Und die Schwere des Lebens zu immer stärkerer Lebens- und Willensenergie, Schaffensfreude und Furchtlosigkeit angestachelt fühlt. Die Lebensbejahung steigert sich bei Nietzsche jetzt zu einem wahren Kultus der Macht, ja des Grausamen, Raubtierhaften im Menschen (der »blonden Bestie«). So trägt sein Individualismus durchaus aristokratische Züge, daneben freilich auch anarchistische Färbung: »Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch. - Die Zeit der Könige ist nicht mehr.«

Nietzsche wendet sich jetzt nicht bloß gegen die Mitleids- und Selbstentäußerungsmoral seines früheren »einzigen« Lehrers Schopenhauer, sondern gegen die Moral überhaupt, die ihm ein System von Sklavengeboten scheint. Er will die alten Tafeln zerbrechen, auf neue Tafeln neue Werte schreiben. Ist nicht Cut vielleicht Böse? Sind nicht vielleicht alle Werte umzuwerten, damit die höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch erreicht werde? Nur das Römerideal gefällt ihm; die anderen, zumal das christliche, sind lebensfeindlich. Tapfer sein ist gut, die »moralinfreie« virtù der Renaissance-Menschen die einzige »Tugend« Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen. Kein Spott dünkt ihm bitter genug gegen die »viel zu Vielen«, die Herdenmenschen, die Willensschwachen, die Weichen und Halben; die Gleichheitslehren der Demokratie, des Christentums, des Sozialismus erscheinen ihm als Zeichen des Niedergangs. Ihnen gegenüber preist Nietzsche-Zarathustra den Glauben an sich, den Stolz auf sich, die Ehrfurcht vor sich selbst, die Härte gegen sich und andere, die Tugenden des »vornehmen« Menschen: Hoheit, Willensweite, Selbstgewißheit bis zur Selbstverherrlichung, Kriegsmut, Gewalttätigkeit, ja schließlich den »freien und leichten« Instinkt. Er predigt das »Pathos der Distanz«; die Moral wird ihm zu einem Problem des Ranges, ja der Rasse. In der Genealogie der Moral, die eine historische Untersuchung sein will, wird das Schlechte (von »schlicht«) schlechtweg mit dem Niedrigen, Gemeinen, Verächtlichen, das Gute mit dem »Bösen« der gewöhnlichen Moral, d. i. dem nackten Machtgefühl identifiziert. Der Sklavenmoral des Christentums steht die Herrenmoral des Übermenschen gegenüber, der weltfrohe »Dionysos« gegen den »Gekreuzigten« Das Extremste dieser Genres findet sich wohl in seiner letzten Schrift, dem Antichrist. Hier redet der bloße Haß gegen diese »feige, feministische, zuckersüße Bande« der Christen, während anderwärts die soziale Frage für einen bloßen Ausfluß der Dummheit und Instinktentartung erklärt wird. Cesare Borgia war mehr als Luther! Es ist ein Kultus der Macht lediglich um der Macht willen. Der »Sinn der Erde«, das Ziel, auf das alles hinausläuft, ist eben nichts anderes als eine neue, stärkere Spezies Mensch, der Übermensch. Er vertritt bei Nietzsche die Stelle der Religion, wenn man nicht die alte, ihm zum »Zarathustra-Gedanken« gewordene Pythagoraslehre von der »ewigen Wiederkunft aller Dinge« als solchen Ersatz ansehen will.

An einer weiteren Umbildung seiner Lehre, die wohl nur eine Umkehr hätte sein können, hat ihn der definitive Ausbruch seiner Geisteskrankheit, die Vernichtung seiner »brausenden« Seele gehindert. Wir aber vermögen Nietzsches Philosophie nur als Entwicklungsgeschichte einer genialen Persönlichkeit zu betrachten, wie er auch selber seine Bücher als seine innersten »Erlebnisse«, in denen er selbst ganz und gar (»ego ipsissimus«) enthalten sei, und jede Philosophie als »das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter mémoires« bezeichnet. Er ist weit mehr Künstler als wissenschaftlicher Denker.

Der ungeheure Einfluß, den dieser »Vogelsteller für unvorsichtige Seelen« längere Zeit hindurch, vor allem auf die gebildete und - halbgebildete Jugend, ausgeübt hat und der erst in der letzten Zeit zu verblassen beginnt, rührt nicht zum wenigsten vom Zauber seines Stiles her. Er ist ein Virtuose der Sprache, musikalisch, malerisch und bildnerisch zugleich, wenn auch in seinen letzten Schriften die Übertreibungen des neuromantischen Symbolismus vielfach barock erscheinen. Daneben wirkte die Loslösung von allen Autoritäten, das leidenschaftliche Herausarbeiten eines extremen, alle Kraftgefühle (Instinkte) reizenden Individualismus, der bei ihm selbst freilich von gemeiner Genußsucht oder Zügellosigkeit weit entfernt bleibt, vielmehr eher große und harte Züge zeigt.

Einen Nachfolger oder Schüler von größerer Bedeutung hat Nietzsche nicht gefunden und konnte eine solche rein persönliche Philosophie auch nicht finden. Von philosophischen Versuchen, die durch ihn beeinflußt oder ihm verwandt sind, nennen wir die Philosophie der Freiheit (1894) von Rudolf Steiner, ferner Das klassische Ideal (1906) von den Brüdern Ernst und August Horneffer, die sich auch um die Herausgabe seines Nachlasses verdient und durch populäre Schriften und Vorträge über ihn bekannt gemacht haben, und Die Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel (1894) von Bruno Wille (vgl. H. Mack, Br. Wille als Philosoph, Diss. Gießen 1913), der neuerdings gleich anderen Nietzscheanern mehr zu der Neuromantik abgeschwenkt ist. Überhaupt scheint, trotz der noch immer starken Literatur über ihn, der Einfluß Nietzsches, wenigstens an Breite, allmählich abzunehmen.

Einen radikalen christlichen Individualismus vertraten, unter sich wieder ganz verschieden, der schwermütige Däne Sören Kierkegaard (1813-1866) und der Russe Leo Tolstoi (1828-1910). Über Kierkegaard vgl. E. Höffding (Klass. d. Phil. II, 2. Aufl. 1902); seine bedeutenderen Werke deutsch herausgeg. von Christoph Schrempf, 1895; eine deutsche Gesamtausgabe (von Schrempf und H. Gottsched) seit 1909 bei E. Diederichs (Jena).

 

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*) Nicht ohne den Einfluß von P. Rée (Der Ursprung der moralischen Empfindungen, 1877) geschrieben. 

**) Vgl. die Abhandlung von W. Jesinghaus, Der innere Zusammenhang der Gedanken vom Übermenschen bei Nietzsche. Bonn 1901; ders., Nietzsche und Christus. Berlin 1913.  


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