6. Pragmatismus


Zu den »realistischen« Richtungen kann man endlich seines empiristischen Grundcharakters wegen auch den neuerdings vielgenannten Pragmatismus rechnen, »ein neuer Name für alte Denkmethoden«, wie ihn sein Begründer, der Professor an der Harvard-Universität (U. S.) William James (1842-1910) selbst bezeichnet hat (Der Pragmatismus. Volkstümliche philosophische Vorlesungen. Aus dem Englischen übersetzt von W. Jerusalem. Leipzig 1908). Der Pragmatismus will kein System sein, sondern eine Methode. Seinen zuerst von Peirce 1878 gebrauchten, aber erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts in weiteren Kreisen bekannt gewordenen Namen hat er davon, dass er die Wahrheit eines jeden Urteils nach seinen praktischen Konsequenzen bemißt. Wahr ist, was unser inneres Leben fördert, uns zu nützlichem Handeln antreibt und deshalb Befriedigung gewährt. Schon Sokrates und Aristoteles haben die pragmatische Methode geübt, ebenso Locke, Berkeley und Hume. Mit dem Nominalismus teilt sie das Sichhalten an das Einzelne, mit dem Utilitarismus den Nützlichkeitsstandpunkt, mit dem Positivismus die Verachtung der metaphysischen Abstraktionen. Eine unversöhnliche Gegnerin ist sie nur dem Intellektualismus oder Rationalismus; dagegen ist sie an sich sowohl mit idealistischer Metaphysik wie naturwissenschaftlichem Materialismus, mit kühlem Atheismus wie mit inbrünstigem religiösen Glauben vereinbar. Alle »Wahrheiten« sind subjektiv, sind im Flusse, alles Wissen nur ein Zurechtlegen unserer Erlebnisse gemäß unseren Zwecken, alle Theorien und Anpassungen der Gedanken an die Tatsachen nur Werkzeuge für weitere geistige Tätigkeit. Der Pragmatismus klebt weder am logischen Denken noch an den äußeren Sinnen: er »ist zu allem bereit, er folgt der Logik oder den Sinnen und läßt auch die bescheidenste und persönlichste Erfahrung gelten. Er würde auch mystische Erfahrungen gelten lassen, wenn sie praktische Folgen hätten. Als annehmbare Wahrheit gilt ihm einzig und allein das, was uns am besten leitet, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt« (James a. a. O. S. 51). Ob man dem Theismus oder dem Materialismus zustimmen soll, hängt davon ab, welche von beiden Annahmen »Besseres für den Fortgang der Welt« beweist. James selbst neigt einer »pluralistischen« und »melioristischen«, also nicht absoluten, sondern relativen Religion zu (A pluralistic Universe - 1909, deutsch von Goldstein, Lpz. 1912) und nimmt allzu bescheiden an, dass »wir zu dem Ganzen der Welt etwa in derselben Beziehung stehen wie unsere Schoßhunde und Zimmerkatzen zu dem Ganzen des menschlichen Lebens« (S. 193). Bei solcher Subjektivitäts-Philosophie braucht man sich nicht zu wundern, dass ihm die Geschichte der Philosophie »zum großen Teile die Geschichte des Aufeinanderprallens menschlicher Temperamente« bedeutet.

Der Pragmatismus hat besonders unter den praktischen Amerikanern und Engländern viele Anhänger gefunden. Der Engländer F. C. S. Schiller (geb. 1864, Oxford) sucht ihn namentlich erkenntnistheoretisch weiterzubilden unter dem Namen »Humanismus«, weil alle unsere »Wahrheiten« von menschlichen Motiven und Bedürfnissen bestimmt werden, weil die Welt, an sich ungeformter Stoff, dasjenige ist, das wir aus ihr machen, kurz der Mensch nach dem alten Protagoras das Maß aller Dinge ist. Von anderen wird er auch als »Instrumentalismus« bezeichnet, weil er die Wahrheit nur als Mittel oder Werkzeug zur besseren Verwendbarkeit der Vorstellungen betrachtet; oder als »Konventionalismus«, weil sich die Begriffe als »wahr« durch ihre Eigenschaft, die relativ beste intellektuelle Vereinbarung zur Ordnung der Vorstellungen zu sein, bewähren. In seiner Formal Logic (1912) bekämpft er den in Deutschland wohl nur noch bei einem Teil der katholischen »Philosophie« sein Leben fristenden dürr-scholastischen Betrieb der Logik. Von weiteren Vertretern der neuen Richtung nennen wir den Amerikaner Dewey (New York) und den Italiener Papini. Auch in Frankreich wurde sie eifrig diskutiert. In Deutschland hat sie bisher am meisten Widerstand gefunden, wie die lebhaften Diskussionen auf den Internationalen Philosophen-Kongressen zu Heidelberg 1908 und Bologna 1911 bewiesen (vgl. den ausführlichen Bericht zu ersterem S. 62-93 und S. 711-740). Hier stehen ihr bisher nur W. Jerusalem (Wien), James' Übersetzer, und Günther Jacoby (Greifswald, Der Pragmatismus, Leipzig 1909) nahe. Schillers Humanismus, Beiträge zu einer pragmatischen Philos. ist von R. Eisler (Wien) ins Deutsche übersetzt worden (Lpz. 1911).


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