3. Einfluß des Kritizismus auf andere Wissenschaften, besonders Naturwissenschaft und Theologie


Schon zu Kants Lebzeiten und ebenso in der seinem Wirken unmittelbar folgenden Periode hatte sich der Einfluß des Kritizismus auf die verschiedensten Wissenschaften erstreckt. Männer wie der Sprachphilosoph und Staatsmann Wilhelm von Humboldt, der Philologe Gottfried Hermann, der Historiker Niebuhr, die Rechtsgelehrten Thibaut, Anselm Feuerbach und Hugo, der Oberpräsident von Schön, die Militärs Boyen und Clausewitz und der Begründer der modernen Physiologie, Johannes Müller, haben sich teils geradezu als Kantianer bekannt, teils an Kant angeknüpft. Dazu trat seine breite Einwirkung auf den theologischen Rationalismus, dessen Vertreter freilich, auch in ihren bekannteren Namen wie Stäudlin, Paulus, Gesenius, Wegscheider, »samt und sonders hinter Kants geistreicher Behandlung zurückblieben« (Zeller), aber immerhin einen tiefgreifenden Einfluß auf die allgemeine Bildung ausübten. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei der Wiederbelebung des Kantianismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und zwar zeigt sich die Einwirkung des Neukantianismus am stärksten in a) der Theologie und b) der Naturwissenschaft.

a) In der ersteren hat sich namentlich die sogenannte Ritschlsche Schule auf Kantische Gedankengänge gestützt, weniger A. Ritschl selbst (1822-89) als dessen. Schüler W. Herrmann (in Marburg, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, 1879) auch J. Kaftan (Berlin, 1848 -1908, Das Wesen der christlichen Religion, 2. Aufl. 1888) ferner M. Reischle (Die Frage nach dem Wesen der Religion, Freib. 1889), neuerdings namentlich E. Troeltsch (Berlin, Philosophische Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Tüb. 1905). Diese Theologen fordern vor allem, unter Berufung auf Kant, reinliche Scheidung zwischen Wissenschaft und Glauben, Ethik und Religion, Naturerkennen und Werturteilen. Die Religion findet ihre wahre Stütze nicht in dogmatischer Metaphysik, sondern in der inneren Erfahrung, im Erleben der Persönlichkeit. Das Evangelium ist wahr, weil es wert ist, wahr zu sein. Wie die Begründung der Wissenschaft, so hat auch die Begründung der Ethik ohne alle Rücksicht auf die Religion zu erfolgen, rein aus dem formalen Selbstzweck der autonomen Persönlichkeit heraus; zu ihrer Entfaltung und persönlichen Aneignung freilich bedarf sie der Religion, wobei dann, namentlich von Kaftan, Kants Lehre vom höchsten Gut herangezogen wird. »Deshalb hat die Fortbildung der Erkenntnismethode der Ethik durch Kant zugleich die Bedeutung einer praktischen Wiederherstellung des Protestantismus« (A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 2. Aufl. I, 431).

Auch R. A. Lipsius (1830-92) berief sich zur Begründung seines religiösen Standpunktes auf Kant, lehnte jedoch nicht mit derselben Schärfe wie die vom Neukantianismus stärker beeinflußten Ritschlianer die religiöse Metaphysik ab.

b) Unter den Naturforschern hat Helmholtz (1821-95) schon Mitte der 50er Jahre und seitdem häufig nicht bloß auf Kants Verdienste um die Naturwissenschaften hingewiesen, sondern auch die von Joh. Müller begründete Lehre von den spezifischen Energien der Sinnesorgane ausdrücklich an den Kritizismus angeknüpft. An Kant ist ihm ferner »die fortlaufende Predigt gegen den Gebrauch der Kategorien des Denkens über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus« sympathisch, und mit ihm erkennt er ferner den Apriorismus des Kausalgesetzes an, welches »das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Naturerscheinungen ausspricht« Dagegen behauptet er, dass die Axiome der Geometrie nicht, wie bei Kant, transzendentale Sätze a priori, sondern bloß empirische Sätze seien.

Auch der Astronom Zöllner (1834-82) hat sich in seinem Buche Über die Natur der Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis, Leipzig 1872, vielfach auf Kant berufen, ging jedoch später zum Spiritismus über, für den Du Prel seltsamerweise auch Kant in Anspruch genommen hat.

Desgleichen sind von bereits früher erwähnten philosophierenden Naturforschern Apelt (S. 268), Schleiden (S. 386), Elsas (S. 406) und F. A. Müller (ebenda), außerdem A. Classen und Ad. Fick (in Würzburg, 1829 bis 1901) vom Kritizismus, die beiden früh verstorbenen mittleren speziell vom Neukantianismus Cohens, beeinflußt. Von denjenigen Naturforschern, die das Bedürfnis einer philosophischen Begründung ihres Standpunktes empfinden, hat besonders klar und entschieden der der Wissenschaft zu früh entrissene Heinrich Hertz (1857 bis 1894, Schüler von Helmholtz, zuletzt in Bonn) in seinen Prinzipien der Mechanik (1894) seinen Anschluß an Kants erkenntniskritische Methode ausgesprochen.

c) Auf die seit etwa 1898 hervorgetretene neukantische Bewegung im Sozialismus werden wir im nächsten Paragraphen zu sprechen kommen.

 

Literatur: H. Cohen, Kants Einfluß auf die deutsche Kultur. Marburg 1883. Ders., Krit. Nachtrag usw. (S. 425), 487-502. Einiges auch in Ed. Zeller, Gesch. d. deutschen Philosophie, S. 417-422. K. Post, Johannes Müllers philosophische Anschauungen, Halle 1905. L. Goldschmidt, Kant und Helmholtz, 1899 (hebt vor allem die Unterschiede zwischen beiden hervor). Über Wilhelm von Humboldt s. oben S. 260.


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