2.c) Ethik und Religionsphilosophie


Die Ethik ist nach Mill keine Wissenschaft, sondern, ebenso wie Politik und Ästhetik, eine Kunst (»Logik der Praxis«). Im Gegensatz zur Wissenschaft, welche die Geschehnisse nach ihren Ursachen und Bedingungen untersucht, setzt sich die »Kunst« Zwecke, die sein sollen, prüft sie auf ihre Wünschbarkeit und Erreichbarkeit und verwandelt so die theoretischen Wahrheiten jener in praktische Regeln und Vorschriften. Ihr oberstes Prinzip ist zu entnehmen aus einer noch aufzustellenden Lehre von den Zwecken (Teleologie) oder »in der Sprache der deutschen Metaphysiker«: Grundsätzen der praktischen Vernunft. So behandelt die Moral das Rechte, die Politik das Zweckmäßige, die Ästhetik das Schöne und Edle. Das letzte Prinzip der Teleologie der »Oberaufseher aller Zwecke« ist: Förderung des eigenen und fremden Glückes. Mill sucht das Utilitätsprinzip Benthams und James Mills tiefer zu begründen. Die letzte Sanktion aller Moralität beruht auf unserem natürlichen Glücksgefühl, wobei selbstverständlich die reichste Erfahrung und das gereifteste Bewußtsein maßgebend sind, sodass die rein geistigen und sozialen Gefühle den Vorzug vor den bloß sinnlichen Genüssen erhalten. Wie Mills Stärke überhaupt mehr auf dem Gebiete der Anwendungen als der Prinzipien liegt, so auch auf dem Felde der Ethik, wovon die verschiedenen, oben angeführten politisch-sozialen Schriften zeugen. Er bleibt zwar im Innersten Grunde seines Herzens begeisterter Individualist, wie namentlich seine berühmte Abhandlung On liberty beweist, aber er verschließt sich der Einsicht in die unsittlichen Konsequenzen des reinen Manchestertums mit jeder Auflage seiner Grundsätze der politischen Ökonomie weniger. Das Individuum ist der Gesellschaft für seine Handlungen von da ab verantwortlich, wo sie die Interessen zweiter Personen beeinträchtigen. Er erstrebt einen, freilich methodisch nicht von ihm begründeten, Ausgleich zwischen Individualismus und Sozialismus. Und der Mann, der sich bis zu seinem Tode als echten Jünger von Adam Smith und Ricardo bezeichnete, kommt im Verfolg dieser Entwicklung zu dem Ausspruch; »Wenn man wählen müßte zwischen dem Kommunismus mit allen seinen Chancen und dem gegenwärtigen Gesellschaftszustande mit allen seinen Leiden und Ungerechtigkeiten; wenn die Einrichtung des Privateigentums es als notwendige Folge mit sich brächte, dass das Ergebnis der Arbeit so sich verteile, wie wir es jetzt sehen, fast im umgekehrten Verhältnis zur Arbeit ... so würden alle Bedenklichkeiten des Kommunismus, große und kleine, nur wie Spreu in der Wagschale wiegen.«

Eine ähnliche Fortentwicklung, wie die politisch sozialen Ansichten unseres Denkers, haben auch seine religiösen Anschauungen in seinen späteren Lebensjahren durchgemacht. Wie die erst aus seinem Nachlaß veröffentlichten Essays: Natur, Nutzen der Religion, Theismus (die ersteren zwischen 1850 - 58, die dritte 1868 - 70 verfaßt) zum Erstaunen von Freund und Feind offenbarten, war der radikale Freidenker doch dazu gelangt, die Religion als Kulturproblem wie als psychologisches Bedürfnis anzuerkennen. Die erste Abhandlung kommt zu dem Schluß, dass die »Natur«, als Ganzes genommen, keineswegs das Wohl fühlender Wesen zu ihrem einzigen oder auch nur Hauptzwecke gehabt haben kann, dass wir vielmehr, im Bunde mit den »wohlwollenden Kräften« der Natur, unser Bestes dazu tun müssen. In ähnlicher Weise hält die zweite Schrift von allen positiven Religionen diejenige für die förderlichste, welche den tugendhaften Menschen als einen Mitkämpfer des Höchsten (als Prinzips des Guten) in seinem beständigen Kampfe gegen das Schlechte betrachtet. Einen vollgültigen, ja besseren Ersatz sieht er indes in der Idealisierung des irdischen Lebens und der »Pflege einer hohen Vorstellung dessen, was daraus gemacht werden könnte« Ewige Fortdauer des individuellen Daseins dünkt ihm ein bedrückenderer Gedanke als dessen Vernichtung. Das Ergebnis der dritten, der »Religion« am weitesten entgegenkommenden, übrigens nicht ausgefeilten Abhandlung besteht in einem skeptischen Verhalten sowohl dem Glauben als dem völligen Atheismus und Agnostizismus gegenüber. Für möglich hält Mill das Dasein eines intelligenten, mächtigen und gütigen, jedoch nicht allmächtigen und allgütigen Wesens, das unserer freiwilligen Mitwirkung zur Erfüllung seines Zwecks, des Sieges des Guten, vielleicht bedarf. Auch die Vorstellung eines sittlich-vollkommenen Menschen (Christus), selbst wenn sie geschichtlich nicht völlig beglaubigt wäre, hält unser »rationaler Skeptiker«, wie er sich selbst nennt, für ethisch wertvoll.


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