3. Immanente Philosophie (Bewußtseinsmonismus)


Eine eigentümliche Stellung unter den idealistischen Richtungen der Gegenwart nimmt der Bewußtseinsmonismus Schuppes und verwandter Denker ein, insofern er, rein erkenntnistheoretisch interessiert, alle Metaphysik ablehnt. Diese »Immanente Philosophie«, eine Zeitlang (1895-98) auch durch eine eigene Zeitschrift für immanente Philosophie vertreten, geht von dem Grundsatze aus, dass die gesamte Erfahrung unserem Bewußtsein immanent, mithin Erfahrung überhaupt = subjektive Erfahrung des eigenen Bewußtseinsinhalts ist. Es existiert kein Ding ohne unser Denken, keine Erfahrung ohne unser Bewußtsein, genauer ohne das Bewußtsein eines Erfahrenden überhaupt; wirklich sein ist = bewußt sein, Objekt = Vorstellung.

Der Hauptvertreter dieser Lehre war Wilhelm Schuppe (1836-1913, lange in Greifswald): Erkenntnistheoretische Logik (1878), Grundzüge der Ethik und Rechtsphilosophie (1882), Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik (1894). Subjekt oder Ich ist ihm nichts anderes als die Einheit der Objekte oder Bewußtseinsinhalte, die in dem Ich- oder Subjektspunkte »koinzidieren« Auch in der Ethik gilt ihm als höchster Wert die Klarheit des Bewußtseins, aus dem die sittlichen Werte und Maßstäbe abzuleiten sind.

Ähnlich wie Schuppe denkt A. v. Leclair (geb. 1848, Wien, Beiträge zu einer monistischen Erkenntnistheorie, 1882). Noch weiter bis zu einem erkenntnistheoretischen Solipsismus gehen fort: Richard v. Schubert-Soldern (geb. 1852, in Görz, Grundlagen einer Erkenntnistheorie, 1884) und Max Kauffmann (• 1896, Immanente Philosophie, Band I: Analyse der Metaphysik, 1893).

Wissenschaftlicher ist der »Psychomonismus« des Bonner Physiologen Max Verworn (geb. 1863), für den »das, was uns als Körperwelt erscheint, in Wirklichkeit unsere eigene Empfindung oder Vorstellung, unsere eigene Psyche ist«. Vgl. außer seinem Hauptwerk, der Allgemeinen Physiologie (5. Aufl. 1909), seine kurze, aber instruktive Göttinger Rede über Naturwissenschaft und Weltanschauung (1904). Verwandt damit ist die Psycho- physiologische Erkenntnistheorie (1898, 2. Aufl. 1907) von Th. Ziehen (geb. 1862, Berlin).

Zu nahe mit Schuppe zusammengerückt wird dagegen gewöhnlich der Standpunkt seines langjährigen Greifswalder Kollegen Johannes Rehmke (geb. 1848). Ihm zufolge hat die Philosophie von dem »Gegebenen« auszugehen. »Gegebenes« heißt ihm alles, dessen wir uns bewußt sind und je bewußt werden können, also z.B. auch die Seele. An diesem »Gegebenen« hat die Philosophie die »allgemeinsten Bestimmungen« klarzustellen; urteilen z.B. heißt konkretes Gegebenes durch allgemeines Gegebenes bestimmen. Vgl. sein Hauptwerk Philosophie als Grundwissenschaft (1910), nebst Anmerkungen dazu (1913). Sein Lehrbuch der allgemeinen Psychologie (2. Aufl. 1905) gelangt zur Behauptung einer Vielheit seelischer Einzelwesen. Im Unterschiede von den seelichen Bewußtseinsbestimmtheiten (der gegenständlichen, zuständlichen und denkenden) ist ihm der Wille das ursächliche Bewußtsein. Vgl. Die Seele des Menschen (4. Aufl. 1913). Willensfreiheit (1911), Logik oder Philosophie als Willenslehre (1918)75.

Überblickt man die neueste Entwicklung der idealistischen Philosophie in Deutschland (und zum Teil gilt es auch von seinen Nachbarländern), so sprechen in der Tat manche Anzeichen für die Richtigkeit von Eduard v. Hartmanns Prophezeiung, dass diese gegenwärtig eine Art »Repetitionskursus« durchmache, nämlich die philosophische Entwicklung von Kant bis Hegel auf neuer Grundlage wiederhole, wie dies O. Ewald in seinem interessanten Aufsatze über Die deutsche Philosophie im Jahre 1906 (Kantstudien XII, 273-302) näher ausgeführt hat. Wirklich sind neben und nach den Neukantianern (§ 72) seit einigen Jahren Neufichteaner aufgetreten, zu denen man außer Bergmann, Eucken und einem Teil der »immanenten« Philosophen noch Windelband, Rickert, Medicus und Münsterberg (Philosophie der Werte 1908) zählen könnte, desgleichen Neuschellingianer: Hartmann, Drews und des letzteren Karlsruher Schüler Leopold Ziegler mit seinem Buche Der abendländische Rationalismus und der Eros, 1905, der jedoch seitdem zum Kritizismus übergegangen ist; und Neuhegelianer, besonders der Holländer Bolland, der Italiener B. Croce und E. Hammacher (1885-1916) in Bonn, während in Cohen, Volkelt, F. J. Schmidt nur einzelne Gedankengänge an Hegel anklingen; ja auch Fries zählt, wie wir S. 268 f. sahen, seit einigen Jahren eifrige Anhänger, die sich unter Nelsons Führung zu einer Art Schule in Göttingen verbunden haben. Aber einmal hinken diese Analogien doch sämtlich mehr oder weniger, zumal da die Entwicklung der Wissenschaft und Gesamtkultur in den letztverflossenen hundert Jahren ganz andere Vorbedingungen geschaffen hat; anderseits stehen den idealistischen heute mehr als damals starke realistische Richtungen gegenüber, von denen wir die wichtigsten noch nicht behandelten im folgenden mustern wollen.


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