2. Der moderne Anarchismus


Stirners merkwürdiges Buch erregte nur vorübergehend einiges Aufsehen, wurde rasch vergessen und hat erst in neuerer Zeit, seit unter anderen E. von Hartmann von neuem darauf aufmerksam gemacht, wieder Beachtung (2. Aufl. 1882), noch später in Mackay u. a. eifrige Anhänger gefunden. Ebenso hat das andere Haupt der modernen anarchistischen Theorie, der bereits S. 455 f. von uns behandelte Proudhon, keine dauernden Erfolge erzielt. Als in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderte das, was man heute meistens unter »Anarchismus« versteht, d.h. die politisch- anarchistische Bewegung, in Fluß kam, hat man im allgemeinen wenig an jene beiden Theoretiker angeknüpft: wie denn überhaupt die uns hier allein interessierende Theorie der »Herrschaftslosigkeit« seitdem systematisch kaum fortgebildet worden ist.

Es lassen sich heute wesentlich zwei, einander entgegengesetzte, Typen derselben unterscheiden:

a) Der kommunistische Anarchismus oder »freiheitliche Kommunismus« (communisme libertaire), vertreten durch die Russen Bakunin(1814-1876) und Fürst Peter Krapotkin, den Professor der Geographie Elisée Reclus in Brüssel (•) u. a. Sein Fundament ist das Prinzip der Brüderlichkeit, sein Ziel »die in der vollen Entwicklung aller materiellen, intellektuellen und moralischen Kräfte bestehende« Freiheit, die keine anderen Beschränkungen als die »uns von den Gesetzen unserer eigenen Natur vorgeschriebenen« kennt. »Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Dies Ziel ist aber nur auf dem Boden völliger ökonomischer und sozialer Gleichheit zu erreichen, daher Verwerfung des Privateigentums: »Alles gehört allen!« Der Weg zu diesem Ideal ist die freie unpolitische Organisation der sozialen Kräfte, in der alle Gewalt aufgehoben ist und jeder dem anderen hilft, wie dies Krapotkin in seinem Werke Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung (deutsch von G.Landauer, 1904) nicht bloß für die Menschen, sondern, Darwin ergänzend, auch für die Tierwelt als wichtigen Entwicklungsfaktor nachweist. Nur gegenüber der Zwangsgewalt des heutigen Staates ist, um sie zu brechen, ebenfalls offene Gewalt erlaubt. Kommunistisch ist dieser Anarchismus, weil er »Einheit als das Ziel« betrachtet, »nach dem die Menschheit strebt« (Bakunin) und »die vollständige Entfaltung der Individualität im Bunde mit der höchsten Entfaltung der Assoziation« (Krapotkin) anstrebt. Diese Richtung des Anarchismus ist gegenwärtig die verbreitetste, wenigstens in den romanischen Ländern und Nordamerika. Nahe steht ihr der französisch-italienische Gewerkschafts- »Syndikalismus« der Franzosen E. Berth, H. Lagardelle, Sorel und des Italieners Arturo Labriola (Neapel).

b) Theoretisch folgerichtiger ist der individualistische Anarchismus J. H. Mackays (Berlin, geb. 1864) und B. Tuckers (Boston), dem der norwegische Dichter H. Ibsen (• 1906) in einzelnen seiner Dramen zuneigte, und dem auch Leo Tolstois (S. 475) Auffassung des Christentums verwandt ist. Dieser Anarchismus kennt keine Versöhnung zwischen Freiheit und Autorität, Egoismus und Altruismus, Individualismus (Anarchismus) und Sozialismus, von welcher der kommunistische Anarchismus oder »libertäre Kommunismus« träumt. Er betrachtet vielmehr den Sozialismus als die »letzte Universaldummheit der Menschheit« Die durch denselben herbeigeführte Ausbeutung der Starken durch die Schwachen (vgl. Proudhon) wird seine Auflösung zur Folge haben. Privateigentum verbietet der individualistische Anarchismus nicht, im Gegenteil, alle sollen Privateigentümer sein. Alle staatliche und rechtliche Gewalt muß wegfallen; nur so ist ein harmonisches gesellschaftliches Dasein möglich. Aber diese Zukunft ist nicht von den Gewaltakten der »Progaganda der Tat«, sondern allein von dem allmählichen langsamen Fortschritt der Vernunft zu erwarten. Freie Assoziation der einzelnen zu bestimmten, namentlich wirtschaftlichen Zwecken läßt freilich auch Mackay zu, während das äußerste Extrem der Herrschaftslosigkeit, das Stirner vertrat, jede praktische Folgerung ausschloß.

Wieder ganz anders geartet ist der aristokratische Anarchismus oder Individualismus des übrigens von Stirner nicht unbeeinflußt gebliebenen Friedrich Nietzsche.

 

Literatur: R. Stammler, Die Theorie des Anarchismus, 1894. Vgl. auch E. Bernstein, Die soziale Doktrin des Anarchismus (Neue Zeit X, 1). Ein anschauliches Bild der verschiedenen Richtungen gibt in belletristischer Einkleidung J. H. Mackay, Die Anarchisten, Kulturgemälde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, Zürich 1891 (Volksausgabe, Berlin 1893). Vgl. ferner P. Eltzbacher, Der Anarchismus, Berlin 1900; dazu die namentlich über die Entwicklung des Anarchismus belehrenden Aufsätze des Holländers Chr. Cornelissen und des Italieners L. Fabbri im Archiv für Sozialwiss., Bd. XXVI (1908.).


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