II. P. J. Proudhon (1809-1865)


Proudhon nimmt eine eigentümliche Mittelstellung zwischen Sozialismus und Individualismus ein, die er miteinander zu versöhnen strebt, sodass wir ihn beinahe ebensogut, wie unter die Sozialisten, unter die »Individualisten« des folgenden Paragraphen einreihen könnten. Die Werke Proudhons sind in 37 Bänden von Lacroix (Paris) herausgegeben worden. Über ihn vergleiche das dreibändige Buch des Nationalökonomen Diehl, Proudhon, sein Leben und seine Lehre (1888-96) und die zusammenfassende Monographie seines begeisterten deutschen Anhängers, des schwäbischen Arztes Arthur Mülberger (• 1907), Proudhon (Stuttgart 1899).

Proudhon, ein armer Schriftsetzer, später Schriftsteller, als solcher etwas konfus, aber geistreich und ehrlich, faßte in seiner aufsehenerregenden ersten Schrift: Qu'est-ce que la proprieté? (1840) seine scharfe Kritik des Eigentumsrechts in die berühmt gewordene, übrigens schon 60 Jahre vor ihm von Brissot de Varville gebrauchte, Formel zusammen: La proprieté c'est le vol, die jedoch nur besagen will, dass das auf Ausbeutung fremder Arbeit beruhende Eigentum »Diebstahl« sei. Denn auf der anderen Seite bekämpft er auch den Kommunismus: das System des Privateigentums beutet die Schwachen zugunsten der Starken, das der Gütergemeinschaft die Starken zugunsten der Schwachen aus; beides aber widerspricht dem Prinzip der Gleichheit und Gerechtigkeit. Das von Hegelschen Ideen ausgehende Système des contradictions économiques oder Philosophie de la misère (1846), das die logische Abfolge der ökonomischen Ideen in der Vernunft entdeckt haben will, richtet sich sogar ziemlich scharf gegen den damaligen kommunistischen Sozialismus, sodass dessen Hauptvertreter, Karl Marx, mit einer noch schärferen Gegenschrift Misère de la philosophie (1847, deutsch von E. Bernstein und E. Kautsky, 1884) antwortete.

Proudhons Mittelstellung zwischen Sozialismus und Individualismus entsprechen auch seine praktischen Vorschläge. Er will nicht die privatwirtschaftliche Produktionsweise überhaupt, sondern nur ihre beiden Hauptübel, Geld und Zins, abschaffen, an deren Stelle sein auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhendes »mutualistisches« Kreditsystem des freien Tauschverkehrs treten soll. Die Staatsgewalt ist hierbei überflüssig: »Freiheit ist die Mutter der Ordnung.« Alle Regierung ist tyrannisch, sie wird durch freies Zusammenwirken ersetzt. So ist Proudhon einer der Väter des modernen »Anarchismus« (der »Herrschaftslosigkeit«) geworden.

Indem die Utopisten, als echte Kinder des Zeitalters der Aufklärung, das neue Gesellschaftsideal aus ihrem Kopfe herausspannen, verkannten sie die realen Machtfaktoren des sozialen Lebens. Ganz anders der moderne oder marxistische Sozialismus.


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