2. Paul Natorp


a) Schriften. Natorp, geboren 1854, seit 1885 Professor in Marburg, ging ursprünglich von Laas' (vgl. § 77) Positivismus aus. Allein schon seine erste größere Arbeit über Descartes' Erkenntnistheorie (1882) ist unter dem Einflusse des (Cohenschen) Kritizismus geschrieben, dessen Methode er dann in eigenartiger Weise weitergebildet und fast auf alle philosophischen Fächer angewandt hat, wie die folgenden Titel seiner wichtigeren Schriften zeigen: Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum (1884); Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888), jetzt völlig umgestaltet und bedeutend erweitert zu dem Buch: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (1912); Religion innerhalb der Grenzen der Humanität (1894, 2. erweiterte Auflage 1908); Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre (1899); Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft (1899, 3. Aufl. 1909); Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910). Eine Ergänzung zur Sozialpädagogik bieten die Gesammelten Abhandlungen zur Sozialpädagogik I.: Historisches (Stuttgart 1907), das die Grenzgebiete beider Wissenschaften regelnde Werk Philosophie und Pädagogik (Marburg 1909) und die populär gehaltenen Vorträge über Volkskultur und Persönlichkeitskultur, Leipz. 1911. Ferner hat Natorp kürzere Hefte über Philosophische Propädeutik, Logik (2. Aufl. 1910), Allgemeine Psychologie, Pädagogische Psychologie (1901), Allgemeine Pädagogik in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen (Marburg 1903 ff.) herausgegeben. Eine knappe Zusammenfassung seiner Ansichten gibt das kleine Buch: Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme, eine Einführung in den kritischen Idealismus (Göttingen 1911, 2. Aufl. 1918). Auch sein Plato-Werk (Bd. I, S. 89) trägt zugleich den systematischen Charakter einer »Einführung in den Idealismus«.

Zeitgemäße Einzelfragen der Pädagogik, besonders die; Religionsunterricht oder nicht?, hat Natorp häufig behandelt und die Schriften des von ihm an die Spitze der Pädagogen gestellten Pestalozzi, mit einem Einleitungsband über Pestalozzis Leben und Wirken, in Greßlers Klassikern der Pädagogik Bd. XXIII - XXV (Langensalza 1905) in Auswahl herausgegeben. Am zusammenhängendsten hat er seine Theorie bisher in der Sozialpädagogik entwickelt, die in ihrem ersten Teile auch eine erkenntniskritische Grundlegung gibt.

b) Theoretische Philosophie. Die Logik (Erkenntniskritik) will nicht, wie die Naturwissenschaft, die zeitliche Ordnung der Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte von Ursache und Wirkung erforschen, sondern ist ausschließlich auf die Einheit der Erkenntnis und deren Bedingungen gerichtet; logische und mathematische Gesetze gelten unterschiedslos und zu aller Zeit. Nur auf erkenntniskritischem Wege, nämlich durch Unterordnung unter die »kategorialen Grundbestimmungen«: Zahl, Zeit, Ort, Größe, Ding, Ursache usw., entsteht Verknüpfung der sogenannten »Tatsachen«, und im weiteren Verlaufe Gesetzlichkeit dieser Verknüpfung, d. i. Naturerkenntnis. Erkenntnis ist dabei zu verstehen als unendlicher Prozeß (fieri), logische Aufgabe, denn Tatsachenbestimmung gibt immer nur Näherungswerte; Aufgabe der Naturwissenschaft kann es nur sein, »Unbestimmtheiten immer enger in Grenzen des Denkens einzuschließen« So bleibt auch der »Gegenstand« für die wissenschaftliche Erkenntnis stets unendliche Aufgabe. Letzter Grund und Ausgangspunkt der Logik ist das Prinzip des Ursprungs (vgl. Cohen), das zugleich den systematischen Zusammenhang, d.h. die Möglichkeit des Fortgangs im Denken bedeutet. Der Urakt des logischen Denkens ist eine begriffliche Neuschöpfung. Es folgt der logische Aufbau der exakten Wissenschaften. Zunächst der Mathematik in: Zahl und Rechnung, Unendlichkeit und Stetigkeit, Richtung und Dimension als Bestimmungen der reinen Zahl. Dann der mathematischen Physik: Mathematische Gesetze der Zeit und des Raumes, zeitlich-räumliche Bestimmung des Existierenden, mechanische Prinzipien, Übergang zur Physik, Energie- und Relativitätsprinzip, durch das die Eindeutigkeit der Naturgesetze nicht berührt wird.

Natorps »Allgemeine Psychologie« will die logischen Grundlagen dieser Wissenschaft klären, also eine Art Philosophie der Psychologie sein, indem sie vor allem nach deren Objekt und Methode fragt. Objekt oder Problem der Psychologie ist die »Totalität alles Erlebten« oder der Gesamtinhalt des Bewußtseins. Die Methode hat davon auszugehen, dass einunddieselbe Erscheinung einerseits Erscheinung für ein Bewußtsein, anderseits Erscheinung eines Gegenstandes ist. Das Physische ist immer auch psychisch, das Psychische zeigt sich stets körperlich; beide bilden eine Einheit in steter Wechselbeziehung aufeinander (korrelativistischer Monismus). Gegenüber der objektiven Erkenntnis der Gesetzeswissenschaften, von denen die Naturwissenschaft auch alle psychischen Erscheinungen uneingeschränkt zu bearbeiten hat, geht die philosophische Psychologie weder in naturwissenschaftlicher Kausalgesetzlichkeit noch in bloßer Beschreibung auf, sondern sucht das Unmittelbare im Bewußtsein zu »rekonstruieren«, gedanklich wiederzuerzeugen.

c) Praktische Philosophie. Das Gesetz der Einheit, als Grundgesetz des Bewußtseins, ist auch für die Ethik, die Zielsetzung des Willens, gültig. Kants formales Sittengesetz bedeutet nichts anderes als unbedingt einheitliche Ordnung der Zwecke, unter der Leitung des aus dem »Triebe« durch den »Willen im engeren Sinne« zur höchsten möglichen Konzentration sich erhebenden »reinen oder Vernunftwillens« Aus den drei »Grundfaktoren der Aktivität« (Trieb, Wille, Vernunft) leitet Natorp sodann - in freier Anlehnung an Plato - ein »System der individuellen Tugenden« ab: der Wahrheit als Tugend der Vernunft, der Tapferkeit oder sittlichen Tatkraft als Tugend des Willens, der Reinheit oder des Maßes als Tugend des Trieblebens, endlich der Gerechtigkeit als Einheit der übrigen und zugleich individuellen Grundlage der sozialen Tugend. Menschenbildung ist nur in menschlicher Gemeinschaft möglich. Die »Sozialpädagogik« handelt daher ebensowohl von den »sozialen Bedingungen der Bildung« als von den Bildungsbedingungen des sozialen Lebens.

Auf dem Gebiete der Sozialphilosophie ergeben sich als die drei Hauptstufen des sozialen Lebens: Arbeitsgemeinschaft, äußere soziale Willensregelung durch Technik und Recht (vgl. Stammler S. 436) und. vernünftige Kritik der letzteren unter dem Gesichtspunkte unbedingter Einheit der Zwecke. Ihnen entsprechen, als die drei Grundklassen sozialen Tuns, die wirtschaftliche, regierende und bildende Tätigkeit, die in dem einen letzten Zweck der Menschenbildung zusammenlaufen. Das »Grundgesetz der sozialen Entwicklung« in Natorps Sinn will kein Natur oder Erfahrungsgesetz, sondern ein regulatives »Gesetz der Idee« sein, das, über die Vorstufen der Naturerkenntnis - Technik - äußeren sozialen Regelung, bis zu dem obersten Ziel- und Leitgedanken einer einheitlichen Ordnung der Zwecke vordringt. Das sittliche Endziel der sozialen Entwicklung erblickt Natorp, an Pestalozzi erinnernd, in der »allseitigen Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen, harmonischen Zusammenhang seiner Grundkräfte«

Den Weg zur Annäherung an dieses soziale Ideal weist die soziale Pädagogik als Organisation und Methode der Willenserziehung; 1. als Organisation in Haus (Familie), Schule und öffentlichem Gemeinleben der Erwachsenen (freier Selbsterziehung); 2. als Methode in Übung und Lehre, enger Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Im Gegensatz zu Herbarts vielgepredigter Lehre vom »erziehenden Unterricht« (vgl. oben S. 340 Anm.) verficht Natorp auch auf dem Felde der theoretischen Pädagogik Kants reinliche Scheidung der einzelnen Bewußtseinsgebiete (Verstand, Wille, Gefühl), indem er den Anteil des Verstandes, der ästhetischen und der religiösen

Bildung an der Willenserziehung untersucht und zugleich in Anlehnung an Pestalozzi die formalen Grundelemente der Vorstellung und die Selbsttätigkeit des Lernenden besonders betont.

Neben Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst besitzt die Religion keine ihr allein eigentümliche Gestaltungsweise, wohl aber einen ihr eigenen Quell im Gefühl: Gefühl, im Sinne Schleiermachers (dem Natorp hier weit näher steht als der Kantischen Religionsphilosophie), als Unmittelbarkeit subjektivsten, innerlichsten Lebens, das alles Denken und Wollen in sich auflöst und sich selbst als unendlich fühlt. Mit diesem Unendlichkeitsgefühl wird der Humane freilich keinen Jenseitsglauben mehr verbinden, sondern den wahren Grund und die reinste Form der Religiosität in echter Menschlichkeit (Humanität) erblicken, unter Wegfall aller Dogmatik und des unwahren Anspruchs auf wissenschaftliche Objektivität, unter Verzicht auf eine andere »Rechtfertigung« und »Erlösung« als durch den »Glauben« an die unendliche Aufgabe des Sittengesetzes.


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