Was die Polizei alles erlebt


»(Salon Liechtner.) Vor einiger Zeit erschien die Kassierin Wilhelmine Grünfeld bei einem Polizeibeamten und fragte an, ob eine Frau Therese Liechtner befugt sei, in ihrer Wohnung galante Zusammenkünfte mit Herren und Damen zu veranstalten. Die polizeilichen Erhebungen führten dahin, dass gestern Therese Liechtner und Franziska Braumüller, welche die Grünfeld an die Liechtner empfohlen hatte, sich wegen Gelegenheitsmacherei vor dem Bezirksrichter Dr. Weiser (Leopoldstadt) zu verantworten hatten. Die Polizei behauptete, dass die Liechtner schon seit zehn Jahren einen Salon habe. Die 70jährige Liechtner, eine bisher unbescholtene Person, gestand, dass sie aus Not hie und da Zusammenkünfte in ihrer Wohnung zuließ. Eine Schneiderin gab an, dass sie bei der Angeklagten genäht habe und dort die Bekanntschaft eines Herrn durch Vermittlung der Liechtner machte. Der Richter verurteilte mit Berücksichtigung der Kränklichkeit der Angeklagten, ihres Alters und ihrer Notlage, sie zu einem Monat Arrest.«

Wem würde sich nicht der Magen umdrehen? ... Noch immer die übersichtliche Unterscheidung zwischen dem Unerlaubten, das erlaubt, und dem Erlaubten, das unerlaubt ist. Eine ist siebzig und lebt in Armut, zehn Jahre aber hat sie schon einen Salon. Die Polizei weiß. Alle Beamten sind vollzählig versammelt und denken über den Fall nach. Stumpf brüten sie vor sich hin. Da naht die Kassierin Wilhelmine Grünfeld und fragt an, ob die Liechtner befugt sei. Obs denn nicht keine Gerechtigkeit in der Welt nicht gebe. Alles springt von den Sitzen auf. Galante Zusammenkünfte zwischen einer Schneiderin und einem Herrn — ah da schau her! Das gibt's nicht! Man erwischt eine kranke Abortfrau, die wahrscheinlich auf ihre alten Tage eingesehen hat, dass man von ungalanten Zusammenkünften schon gar nicht leben kann. Die Polizei aber — das muß man auch wieder zugeben — würde in Lethargie versinken, wenns nicht manchmal so eine Aufmischung gäbe.

 

 

Nr. 324-25, XIII. Jahr

2. Juni 1911.


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