Die Riedauer


Beim Typhus kapieren sie’s. Da steht eine liberale Welt gegen das rückständige Riedau. Will einer sie vor geistiger Gefahr schützen, so schützen sie alle die geistige Gefahr vor ihm. Immer ist Typhus, immer fühlt sich einer verpflichtet, den Fall anzuzeigen, und immer werden ihm statt Brotes Steine gegeben. Die Anzeige eines Typhusfalls ist die handgreiflichste Wahrheit, die einer sagen und an der sich eine Gemeinschaft versündigen kann, deren Denken nicht über die nächste geschäftliche Raison hinausgreift. Riedauer, denen die Anzeige eines Typhusfalles peinlicher ist als Typhus, gibt’s nicht nur in Riedau. Aber Riedauer, die vor der Verbreitung tieferer Wahrheiten zurückschrecken, nur außerhalb Riedaus. Was gilt die Wette, sie sitzen in den Redaktionen, die jetzt auf dem Grab des Doktor Franz Leitartikel pflanzen, in den Körperschaften, die protestieren, und sind unter den Persönlichkeiten, die sich durch munifizente Spenden hervortun und denen viel daran liegt, immer voranzugehen, und wäre es selbst mit gutem Beispiel. Die hausbackene Tragik des Opfers seiner Pflicht verstehen sie alle. Der Denker, der ohne Auftrag sich der höheren Erfüllung opfert, stirbt ohne Beileid. Dieses humane Gesindel beschimpft die ehrlichen Krämer, die einem Arzt, der ihnen das Geschäft verdarb, die Praxis entzogen. Als ob es nicht dieselbe Gesinnung wäre, die überall gegen die Gesittung rebelliert und anderswo nur in der Furcht vor Blamage erstickt. Als ob nicht überall die Lust bestünde, ein Herz zu kränken, weil eine Tasche beleidigt war! Wenn die Kollegen, denen der Arzt in Klagebriefen seine Situation geschildert hat, postwendend ihr Standesbewußtsein betätigt hätten, so wäre jenem die Niederlage im aussichtslosen Kampf gegen die beleidigte Gewinnsucht erspart geblieben. Jetzt kauft sich die Humanität durch Sammlungen ihre Ehre, denn billiger als einen bedrohten Arzt retten ist es, gegen seine Nachkommen großmütig zu sein. Dass es ihr aber weniger um die Hinterbliebenen des Doktor Franz zu tun ist als um die Zurückgebliebenen von Riedau, daß der Fortschritt hier die Humanität überflügelt hat, bewies ein Vorschlag der Neuen Freien Presse. Weil jede Verletzung ethischer Pflichten durch geschäftliche Rücksichten ein Greuel vor dem Herrn Benedikt ist, hat er sich kurz entschlossen einen Mann verschrieben, der ihm als geborener Oberösterreicher kompetent für eine Riedauer Angelegenheit zu sein schien. Es ist dies jener Herr Julius Bittner, der bisher bloß als Christ der Neuen Freien Presse ausgeholfen und durch eine Reihe urwüchsiger Feuilletons in kurzer Zeit Aufsehen erregt hat. Da nämlich die Herren Bahr und Burckhard nicht mehr ganz frische Linzerische Buam sind, so war Herr Bittner berufen worden, um es den österreichischen Behörden »einizusagen«, überhaupt diese Zustände zu geißeln und durch die gelegentliche Einflechtung des Wortes »halt« jenen Erdgeruch zu verbreiten, der den angestammten Esprit der Auern- und Wertheimer wohltuend ergänzen könnte. (Wobei freilich die Neue Freie Presse vergessen hatte, dass auch Herr Salten »halt« sagt und dass es dazu nicht der Erwerbung eines echten Oberösterreichers bedurft hätte.) Weil es sich aber jetzt um ein spezifisches Problem aus dem Innviertel handelte und man von Bittner voraussetzen konnte, dass er seine Riedauer kennen werde (worin man sich nicht getäuscht hat), so ließ man ihn den Leitartikel schreiben. Herr Bittner lieferte seine Landsleute — ös Mannder — mit Haut und Haaren der Aufklärung aus und lud diese zu einer höchst eigenartigen Revanche an den Riedauern auf. Es sei Ehrenpflicht eines Arztes, so etwa sagte er, die Behandlung eines sterbenden Riedauers zu verweigern und die gebärenden Riedauerinnen im Stich zu lassen. Das werden sie davon haben. Not lehrt bloß beten, aber der Tod lehrt die Aufklärung. Wenn die Riedauer hin sind, werden sie schon sehen. Wüßte man nicht genau, daß hier ein Aufgeklärter spricht, man würde glauben, es spreche ein Riedauer. Bei Epidemien schlägt das unwissende Volk die Ärzte tot: das wissende demonstriert für die Ärzte durch Verbreitung der Krankheiten. Herr Bittner ist sonst ein gutartiger Opernkomponist; und als Richter sollte er wissen, daß die Verweigerung ärztlicher Hilfe auch in den schwersten klerikalen Fällen ein Delikt ist. Die wahren Riedauer schreiben keine Leitartikel und haben unter dem unwiderstehlichen Zwang ihrer Dummheit gehandelt. Kann man sich künftig noch über den Geist von Riedau erbosen, wenn das liberalste Blatt die Humanität auf so grausame Art durchsetzen möchte? Dieser Großstadt, die ihren Scharlachkranken die Spitalsbetten verweigert und ihre Tuberkulösen auf Schubkarren zum Amt eskortieren läßt, steht es schlecht genug an, sich über die Bauern zu entrüsten, die das Geheimnis eines Typhusfalls vor der Behörde wahren möchten. Hätten die Riedauer das Geld gehabt, um in die Neue Freie Presse die Erklärung einrücken zu lassen, dass das Gerücht von einer Typhusepidemie in Riedau aus der Luft gegriffen sei, der Doktor Franz wäre heute am Leben. Die Neue Freie Presse, die gewerbsmäßig jeden Keuchhusten aus jeder Sommerfrische abtreibt, hätte nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal ihr Verständnis für den Gedankengang der Riedauer bewiesen. Diese rächen sich am Arzt, der ihnen die nächste Profitquelle vergiftete, da nach seiner Anzeige die Einquartierung unterblieb. Die Hoteliers der Riviera helfen sich bei Blatterngefahr mit Annoncen. Und es ist immerhin möglich, dass vor einigen Jahren mehr Leser der Neuen Freien Presse in Nizza die Blattern bekamen, als Soldaten in Riedau sich den Typhus geholt hätten. Die Blindheit, die sich ein nahes Geschäft nicht entgehen lassen möchte, ist nicht so gefährlich, wie die Erkenntnis, die durch bezahlte Dementis Gesunde in die Gegend lockt, und hundertmal verächtlicher ist es, wenn die Aufklärung von der Gewinnsucht, die eine Epidemie verheimlicht, Prozente nimmt, als wenn die Unbildung aus Gewinnsucht eine Epidemie verheimlicht. Einen Arzt in den Tod treiben, weil er die Wahrheit gesagt hat, ist inhuman; schimpflich ist, im Irrtum zu beharren und einen Inseratenagenten leben zu lassen. Riedau ist größer, als man glaubt. Die Volkszählung, die jetzt im Zuge ist, wird feststellen, wie viel Riedauer es in Österreich gibt, wobei wir wieder zwischen den wahren und den unwahren zu unterscheiden haben werden.

 

 

Nr. 315/316, XII. Jahr

26. Januar 1911.


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